Politik

Afghanistan-Not bei Markus Lanz "Von der Katastrophe in die Apokalypse"

Bilder aus einem Krankenhaus in Kabul. Im Westen Afghanistans mussten Kliniken schließen, weil Ärzte nicht mehr bezahlt werden.

Bilder aus einem Krankenhaus in Kabul. Im Westen Afghanistans mussten Kliniken schließen, weil Ärzte nicht mehr bezahlt werden.

(Foto: AP)

Nach dem Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan steht das Land vor dem wirtschaftlichen Kollaps und einer humanitären Katastrophe. Bei Markus Lanz berichtet ein Arzt über die Situation in Westafghanistan. Dort herrschten unvorstellbare Zustände.

Afghanistan sei schön und friedlich. Das behauptete ein Sprecher der regierenden Taliban noch Mitte September. Doch die Wahrheit sieht anders aus. 14 Millionen Menschen haben in dem Land laut Welthungerhilfe nicht genug zu essen. Das ist jeder dritte Mensch in Afghanistan. Es fehlt an Unterkünften, Trinkwasser, medizinischer Versorgung. Der Klimawandel hat dazu geführt, dass viele Bauern ihre Dörfer verlassen. Sie versuchen, in den Städten zu überleben. Oft vergebens. Und die Situation wird sich noch verschlimmern. Bald kommt der Winter, und die vierte Covid-Welle droht.

"In Afghanistan sind gerade einmal vier Prozent der Bevölkerung gegen Covid-19 geimpft", sagt Tankred Stöbe von der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. Er war im September in der westafghanischen Stadt Herat. Am Donnerstagabend war er zu Gast bei Markus Lanz im ZDF.

"Konflikt in Afghanistan nicht zu Ende"

Was der Westen in den letzten zwanzig Jahren in Afghanistan versucht habe, sei wirkungslos geblieben, kritisiert Stöbe. Den Menschen vor Ort müsse geholfen werden, jetzt, in den nächsten Wochen. "Dass uns Afghanistan egal ist, kann keine Strategie sein." Der Konflikt in Afghanistan sei nicht vorbei, nur weil die Helfer das Land verlassen haben.

Stöbe berichtet von unvorstellbaren medizinischen Zuständen in der größten Stadt Westafghanistans. Krankenhäuser müssen schließen, weil Ärzte keine Gehälter mehr bekommen. Mütter versorgen ihre unterernährten Kinder in den Krankenhäusern. Sie spritzen irgendetwas in verdreckte Venenzugänge. Was sie da genau täten, wüssten sie nicht, sagt Stöbe. "Niemand ist da, der ihnen sagt, was sie tun sollen."

"Afghanistan steht vor dem Kollaps"

Stöbe berichtet von Kindern mit Mangelerscheinungen, die nur noch aus Haut und Knochen bestehen. Bis zu vier Kinder müssten sich ein Krankenhausbett teilen. Er habe versucht, einem Jungen das Leben zu retten. Der Junge war anderthalb Jahre alt und wog gerade mal dreieinhalb Kilo. So viel wiegt ein Kind normalerweise direkt nach der Geburt. Stöbe wollte den Jungen künstlich ernähren. Doch am Ende habe er ihn nicht retten können. Der Junge sei gestorben.

Die Krise im Gesundheitswesen Afghanistans sei nicht neu, sagt Stöbe, Ärzte ohne Grenzen habe schon 2014 gewarnt. Die Lage habe sich jetzt dramatisch verschlechtert: "Afghanistan rast von einer Katastrophe in die Apokalypse", so Stöbe.

Nun drohe dort die vierte Covid-19-Welle aus dem Iran. In Westafghanistan könnten sich die Menschen dagegen nicht schützen. "Es gibt nur noch ein paar Impfdosen - in der Hauptstadt Kabul", beschreibt der Arzt die Situation. Offiziell seien bisher 750.000 Menschen in Afghanistan an Corona gestorben. Stöbe glaubt diese Zahl nicht. Die dortige Regierung sei unfähig zu helfen. Vor der Machtübernahme der Taliban habe es in Afghanistan eine korrupte Regierung gegeben. "Diese korrupte Regierung wurde jetzt durch eine inkompetente Regierung abgelöst", sagt Stöbe.

"Impfstoff vor Ort produzieren"

Für den Mediziner gibt es nur eine Lösung: Die Entwickler von Impfstoffen gegen Covid-19 müssten einen Wissenstransfer zulassen. Wenn Länder zu arm seien, Impfstoffe zu kaufen, müssten Wissenschaftler lernen, sie vor Ort zu produzieren. Stöbe weiß zwar, dass Afghanistan so nicht wirklich geholfen werden kann, aber seiner Ansicht nach ist es wichtig, dass so mehr Impfstoff produziert würde. "Es ist strategisch falsch zu sagen: Nur weil wir hier raus sind, ist die Welt gerettet", sagt Stöbe mit Blick auf die westlichen Industrienationen. Denn: "Covid ist ein globales Problem."

Quelle: ntv.de

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