Arm, abgehängt, ausgegrenzt Warum die Lage in Ferguson eskalierte
21.08.2014, 16:33 Uhr
Bewaffnete Polizisten richten ihre Gewehre auf Demonstranten - eine Szene mit Symbolwert.
(Foto: REUTERS)
Die tödlichen Schüsse auf den 18-jährigen Michael Brown empören die Menschen in der US-Kleinstadt Ferguson. Dass die Lage trotz ähnlicher Vorfälle in anderen Städten ausgerechnet in dem 20.000-Einwohner-Ort eskaliert, hat Gründe.
Die Polizisten tragen kugelsichere Westen, Helme und zielen mit ihren Gewehren auf eine aufgebrachte Menge. Die Lage in Ferguson ist angespannt. Die Menschen fordern Gerechtigkeit für Michael Brown - den jungen Mann, der am 9. August von einem Polizisten erschossen wurde. Sechs Kugeln aus der Dienstwaffe des weißen Polizisten Darren Wilson trafen ihn. Die ersten vier in die Arme, die letzten beiden in den Kopf. Dabei war Brown unbewaffnet. Ob gegen den Schützen Anklage erhoben wird, ist aber noch offen, bislang wurde er lediglich beurlaubt. Seit Tagen ist die Stadt in den Schlagzeilen.
Was in der Berichterstattung oft untergeht: Fälle wie dieser sind keine Seltenheit in den USA. Für die Bürgerrechtsorganisation ACLU ist die Kleinstadt bei St. Louis sogar "Everytown" –also beispielhaft für die gesamten USA. Auf ihrer Homepage listet die Organisation fünf ähnliche Fälle seit April dieses Jahres auf, bei denen Afroamerikaner getötet wurden. Aber warum kommt es ausgerechnet in Ferguson zu so heftigen Protesten, während es anderswo ruhig bleibt?
Armut, Rassismus, Schikanen
Ursachen sind die Armut und der alltägliche Rassismus, wie im Gespräch mit Professor Norbert Finzsch von der Universität Köln deutlich wird. Während in anderen Teilen der USA eine schwarze Mittelschicht entstand und Afro-Amerikaner zu Ärzten, Anwälten, ja sogar Präsidenten aufsteigen konnten, tat sich in Missouri nicht viel. An Städten wie Ferguson sind die Fortschritte der vergangenen Jahrzehnte weitgehend vorübergegangen. Die Menschen fühlen sich ausgegrenzt und abgehängt. Grund sind auch wiederkehrende Schikanen. "Wenn Sie als Schwarzer mit einem Auto unterwegs sind, werden Sie höchstwahrscheinlich kontrolliert", sagt Finzsch n-tv.de. Wer Kritik übt, wird gemaßregelt und macht sich obendrein verdächtigt. Bei so vielen Kontrollen werden die Polizisten auch häufiger fündig. Besonders deutlich zeigt sich das etwa beim Thema Drogen. "Nur drei bis vier Prozent der Konsumenten in den USA sind Afro-Amerikaner", erklärt der Historiker Sebastian Jobs von der Freien Universität Berlin im Gespräch mit n-tv.de. Doch 50 Prozent der Verurteilten seien Schwarze. Solche Erfahrungen sind der Nährboden für den Protest.
In Ferguson ballt sich so jede Menge sozialer Sprengstoff, der nun explodiert. Arm, ausgegrenzt, ausweglos – so lässt sich die Situation der meisten Menschen dort zusammenfassen. "Ferguson ist heute der Hungergürtel von St. Louis", erklärt Finzsch. Er zeichnet ein düsteres Bild der Kleinstadt mit ihren gut 20.000 Einwohnern. "Viele Strukturen aus der Zeit der Sklaverei existieren noch immer weiter." Seit 1965 sind die Afro-Amerikaner zwar formal gleichberechtigt, doch in Missouri habe sich dennoch wenig geändert.
Schwarze Jugendliche brechen reihenweise die Schule ab, nur wenige schaffen es an eine der Universitäten. Hohe Arbeitslosigkeit ist die Folge. In Ferguson leben sie in heruntergekommenen Häusern, für die sie dennoch hohe Mieten hinblättern müssen. "Das Durchschnittseinkommen eines Schwarzen in Ferguson liegt bei 20.000 US-Dollar im Jahr", so Finzsch – weniger als die Hälfte des landesweiten Durchschnitts.
Weiße Polizisten
Soziale Aufstiegschancen gibt es selten, Resignation macht sich breit. Kaum jemand geht wählen. Nur zwölf Prozent der Wahlberechtigten gaben bei der vergangenen Bürgermeisterwahl überhaupt ihre Stimmen ab, wie Finzsch erläutert. Am Ende gewann ein Weißer. Gruppen, Organisationen oder Parteien, die Anliegen der verarmten Schwarzen in Missouri vertreten, gebe es kaum noch. Also bricht sich der Frust als Protest auf der Straße Bahn.
Da auch der Polizeichef per Wahl in sein Amt gelang, gehört auch dieser der weißen Minderheit an. Wer Sheriff werden will, muss den Weißen versprechen, für Sicherheit zu sorgen – und die fühlen sich oft von den Schwarzen bedroht. Dabei träfen deren Verbrechen in den meisten Fällen andere Afro-Amerikaner, so Finzsch. Denn die beiden Gruppen grenzen sich stark voneinander ab. Das gehe so weit, dass manch ein Schwarzer noch nie einen Weißen zu Gesicht bekommen habe.
Nun versucht US-Justizminister Eric Holder die Wogen zu glätten. Ein Schlüssel wird dabei sein, dass die Menschen den Ermittlungsergebnissen des FBI vertrauen. Bis diese vorliegen, wird sich die Wut kaum legen. Eine kurzfristige Beruhigung der Lage wird wohl nur eine Anklage gegen den Todesschützen bringen. Was sich vor den Schüssen auf Michael Brown abgespielt hat, ist aber umstritten. Hob er die Hände? Machte er eine Geste, als wolle er eine Waffe ziehen? So oder so stellt Finzsch angesichts von sechs Schüssen die Frage nach der Verhältnismäßigkeit. "In Deutschland würde ein Polizist der Person ins Bein schießen", sagt er. Und nicht in den Kopf.
Reformbedarf gibt es in Ferguson so oder so. Jetzt müssten schwarze Polizisten her, so wie es sie in Los Angeles oder dem benachbarten Oakland längst gibt, sagt Finzsch. Ein interessanter Vorschlag sei auch, alle Polizeikontrollen und -einsätze zu filmen, da so Polizeigewalt Einhalt geboten werden könne. Um die zugrunde liegenden Probleme der Stadt zu lösen, wird es allerdings mehr brauchen als ein paar Polizeireformen und eine formale Anklage.
Quelle: ntv.de