Berlin Tag & Macht Wer nicht gewählt wird, muss zurückziehen, Herr Merz


Merz und Spahn am 6. Mai im Bundestag, nachdem der Kanzlerkandidat im ersten Wahlgang durchgefallen war.
(Foto: picture alliance/dpa)
Der Kanzler fliegt gerne selbst, derzeit aber permanent im Sinkflug. Während ihm die Fraktion um die Ohren fliegt, leugnet Regierungspilot Merz vom Cockpit aus die heftigen Turbulenzen. Das Opfer: eine hochqualifizierte Frau. Ausgerechnet die Grünen sollten sich darüber nicht zu laut empören.
Meine Oma sagte immer: "Es ist egal, wenn die Leute heute über dich sprechen. Du musst dir erst Sorgen machen, wenn sie nächste Woche immer noch über dich sprechen!" Gut, damals war ich 17 und meine Diskursobjekt-Probleme lagen eher auf Themenfeldern wie "hat die echt mit Jonathan rumgeknutscht?" oder "ist die nicht zu dünn?" und weniger auf Elementarbereichen wie "Warum will sie Waffen an die Ukraine senden, hat sie denn Richard David Precht nicht zugehört?"
Wobei, ehrlich gesagt, wurde damals, Mitte der Nullerjahre, am häufigsten fremddiskutiert, ob das wohl wirklich ich sei, da auf diesen riesigen Werbeplakaten für ein neues Parfum, die überall in der Stadt hingen. Das erwähne ich an dieser Stelle aber lieber nicht, denn so was klingt immer ziemlich selbstverliebt und arrogant. Keine guten Eigenschaften, denn Seriosität ist ja immens wichtig für politische Star-Kolumnistinnen mit zweifelsfrei hochwissenschaftlichem Fach-Hintergrund.
Egal. Friedrich Merz kennt meine Oma sowieso nicht. Was aber nicht primär seine Schuld ist. Merz lebt im Sauerland, meine Oma in Walsrode. Walsrode ist ziemlich klein und - sofern nicht Teile der eigenen Familie dort leben - ziemlich unbedeutend. Merz hat Walsrode also höchstens mal flüchtig aus den Augenwinkeln auf seinem Flugradar vorbeihuschen sehen, wenn er einen seiner Privatjets von Arnsberg nach Sylt pilotierte. Obwohl, Privatjet klingt jetzt extrem mondän und luxusorientiert. So nach Champagnerflöten, Gucci-Sesseln und Whirlpools auf dem Holodeck. Das wird dem bodenständigen Mittelständler Merz nicht gerecht. Er fliegt keine Privatjets, er fliegt Privatflugzeuge. Das spiegelt sich auch in seiner Interpretation der Regierungsführung wider. Da gibt er ja auch nicht den kraftvollen Airbus 380A der Kanzler, sondern eher ein schnödes Propellerflugzeug.
Omas gegen rechts (und gegen Merz)
Wenn aber, um dieses umständliche Intro zu einem versöhnlichen Abschluss zu bringen, meine Oma recht hatte und man Image-Schäden erst befürchten muss, sobald die Echauffierungswelle länger als eine Woche verharrt, ist zu attestieren: Im Kanzleramt ist Hochwasser. Bereits vergangene Woche musste ich an dieser Stelle die 99 Probleme des Chefs der Ampel-Nachfolgeriege auflisten. Und eine Woche später hat sich der Empörungsradius um die Merz-Regentschaft sogar nochmals vergrößert. Dafür, dass sich der erste Blackrock-Kanzler der Bundesrepublik ziemlich sicher war, der Bundestag sei "kein Zirkuszelt", lässt er sich aktuell doch recht roncallimäßig durch die Manege ziehen. Obwohl: Der Vergleich hinkt noch fulminanter als der von Nico Kovac, als er kürzlich Julian Brandt auf eine Stufe mit Jamal Musiala und Florian Wirtz stellte. Bei Roncalli wissen die Verantwortlichen nämlich wenigstens, was sie tun.
Friedrich Merz hingegen, sozusagen ein Julian Brandt unter den Kanzlern, ist erst seit 75 Tagen Mannschaftskapitän der Polit-Nation. Nicht wenige sehnen sich bereits heute Christian Lindner zurück, um die realistische Chance zu wahren, die Koalition könne sich jederzeit selbst zerlegen und auflösen. Fairerweise muss man zugestehen: Merz steckt in einer Situation, in der man es schwerlich allen recht machen kann. Den einen ist er zu links, den anderen zu rechts. Sortiert man sich politisch rechts der CDU/CSU ein, also etwa auf der Höhe Alice Weidel/Julian Reichelt/Attila Hildmann, werden auch Aussagen wie "Asylbewerber nehmen uns Deutschen die Zahnarzttermine weg" mitunter dem linksradikalen Milieu zugeordnet.
Hält man sich hingegen auf eine Jan-van-Aken-Weise für links, dann steht man für dasselbe Zitat beinahe in einer Ideologielinie mit Adolf Hitler. Und dann gibt es natürlich auch noch das Links im Sinne von Sahra Wagenknecht, welches etwa so definiert wird: Wenn ich von Berlin aus konsequent nach links gehe, komme ich nach knapp 38.000 Kilometern in Moskau an. Klar, würde man von Berlin stattdessen nach rechts gehen, wären es nur 1.800 Kilometer, aber für lösungsorientierte Ideen ist man beim BSW an einer noch schlechteren Adresse als Influencer bei der NRW-Steuerbehörde.
Der Bär bockt wegen Merz
Vernichtende Merz-Urteile sind also fester Bestandteil der Hufeisen-Theorie. Die "Neue Zürcher Zeitung", als Schweizer Tageszeitung prädestiniert für fundierte Analysen zur deutschen Politiklandschaft, titelt dieser Tage beispielsweise: "Merkel heißt jetzt Merz!" Jetzt nicht im Sinne von Transgender-Gedanken, sondern als Hommage an die Aussitz-Qualitäten der Ex-Kanzlerin. Eine durchaus bizarre Behauptung. Wer zum Beispiel die Russland-Strategie von Merz und die von Merkel als deckungsgleich deklariert, der sollte bei Gelegenheit mal die eigene politische Sehschärfe überprüfen lassen.
Auf der anderen Seite der lagerübergreifenden Anti-Merz-Bewegung empört sich Ex-Außenministerin Annalena Baerbock über den Umgang von Merz und seiner Koalitionsbrigade mit der designierten neuen Verfassungsrichterin Frauke Brosius-Gersdorf: "Kein Zufall, mit welch diskreditierenden Methoden (erneut) eine hochqualifizierte Frau zu Fall gebracht werden soll!" Ebenfalls eine riskante Aussage, wenn man bedenkt, dass Annalena Baerbock ihren aktuellen Posten bei der UN nur erhalten konnte, indem sie via politischer Posten-Manöver einer hochqualifizierten Frau (in diesem Fall der Diplomatin Helga Schmid) den schon zugesagten Job kurzfristig wieder abnahm und sich selbst zuschusterte.
Wo gehobelt wird, da fallen Spahne
Womit das Hauptthema der Woche angeschnitten ist: Die desaströse Nichtwahl von SPD-Kandidatin und Koalitions-Nominierung Frauke Brosius-Gersdorf zur Verfassungsrichterin. Merz und sein Fraktionsadmiral Jens Spahn hatten sie intern durchgewunken und flächendeckende Zustimmung aus den eigenen Reihen erwartet. Es kam anders. Fraktionschef Spahn offenbarte unübersehbare Teamfähigkeits-Defizite und ließ Merz vor die Wahlfiasko-Wand laufen.
Zumal kaum jemand sich vorstellen kann, dass Fraktionsflüsterer Spahn tatsächlich nicht geahnt hatte, dass die erzkonservativen Bundestags-Hinterbänkler der Union gegen diese als Jeanne d´Arc der Abtreibungsreformen stilisierte Kandidatin rebellieren würden. Interessant ist jedenfalls, dass sich die CDU/CSU-Fraktion bei derart wichtigen Personalentscheidungen eher an die tendenziösen Einordnungen von rechtspopulistischen Journalisten-Attrappen hält als an ihren eigenen Kanzler.
Prompt stand Merz im Mediengewitter. Gewinnen konnte er nicht mehr. Spahn hatte ihn auf dem Boulevard der Social-Media-Schnelltribunale als führungsunfähige Kanzlermarionette zurückgelassen. Vielleicht huschte Spahn abseits der Kameras sogar ein Lächeln der Genugtuung über die Lippen, als viele Stimmen aus seiner Partei laut wurden, Brosius-Gersdorf solle ihre Kandidatur zurückziehen, da man sie nun mal nicht gewählt hatte. Eine instabile Argumentation. Nach der Logik hätte auch Friedrich Merz am 6. Mai auf seine Kandidatur verzichten müssen, nachdem er nicht zum Kanzler gewählt worden war.
Statt sich also längst überfälligen Themen wie Klima, Rente, Mieten, Verteidigung, Bildung oder Migration widmen zu können, musste der Kanzler von Medientermin zu Medientermin tingeln, um das von Masken-Methusalem Spahn verursachte Wahl-Debakel schönzureden. Gipfelnd in einem schon jetzt legendären ZDF-Sommerinterview, in dem Merz die These aufstellte, das ganze Thema sei aufgebauscht, denn die Menschen da draußen interessierten sich ohnehin nicht dafür, wer nun Verfassungsrichter wird oder nicht. Kein Wort hingegen darüber, dass diese Debatte vollkommen überhitzt geführt wird und inzwischen auf einem Niveau angelangt ist, bei dem man zu Recht fragen könnte, ob sich alle Kommentarspalten-Rambos für bereits geborenes Leben ähnlich engagieren würden, wie für ungeborenes. Beim Thema Seenotrettung etwa.
Gender Postmann zwei Mal klingelt
Addiert man jetzt noch die im Rahmen der Brosius-Gersdorf-Apokalypse unverschuldet zu Randthemen verkommenen Baustellen wie Mindeststeuer oder Bezahlkarte hinzu, wird schnell deutlich: Friedrich Merz hat womöglich sogar mehr als 99 Probleme. Und das, obwohl er mit seinem Satz "Die Einführung der bundeseinheitlichen Bezahlkarte ist eigentlich überfällig" endlich mal eine Aussage rausgehauen hatte, bei der ihm nur mit sehr viel verschwörungstheoretischem Übereifer eine spürbare Nähe zu linken Gedankengängen attestiert werden könnte.
Auch seine Volksnähe und seine Treue zu Wahlversprechen wird von seinem spahnisierten Wahl-Waterloo überschattet. Dabei ist es sein eigener Koalitionsvertrag, in dem der Verbleib besagter Mindeststeuer manifestiert wird, die Merz nun höchstpersönlich einkassierte. Aktuell zeigt sich der Kanzler so wenig an vorherige Zusagen gebunden, CDU-Realpolitiker wie Christoph Ploß befürchten bereits, demnächst fängt der Kanzler zu gendern an. Es ist also davon auszugehen, dass Friedrich Merz in der kommenden Woche sogar das Kritik-Tsunami-Triple vollmachen wird. Quasi den Grand Slam der öffentlichen Dauermissbilligung. Wie genau der aussieht, das verrate ich nächsten Donnerstag genau hier! Bis dann.
Quelle: ntv.de