Langer Atem gefragt Wie der Staat gegen die Clans kämpft
16.01.2022, 11:15 Uhr
Dass sein Geschäftsmodell mit dem Gesetz kollidiert, stört Ahmed nicht.
(Foto: ntv)
Seit fünf Jahren kämpft der Staat verstärkt gegen kriminelle Clans, gegen No-Go-Areas und spektakuläre Überfälle. Ein Ende ist bislang nicht in Sicht.
Der Knall ist ohrenbetäubend. Am frühen Morgen des 8. Juni 2021 rammt ein Panzerwagen die Eingangstür zu einer Villa in Leverkusen und stößt sie auf. Maskierte Polizisten stürmen das Anwesen. Ähnliche Szenen, allerdings mit etwas leichterem Gerät, spielen sich zeitgleich in Düsseldorf, Bochum, Wuppertal und Köln ab. 600 zum Teil schwer bewaffnete Einsatzkräfte durchsuchen an diesem Morgen 31 Objekte in insgesamt 15 Städten. Am Ende des Tages haben sie knapp 350.000 Euro, Schusswaffen, Schmuck, Luxusuhren und Blankobescheinigungen über Corona-Tests sichergestellt. Auch die Villa im Wert von knapp 800.000 Euro wird zunächst beschlagnahmt.
Mit Stolz geschwelter Brust verkündet der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul, beim Hauptbeschuldigten handele es sich um "einen der absoluten Top-Leute der Clankriminalität in NRW". Man habe ihn nicht nur festgenommen, sondern ihm auch das Zuhause weggenommen. Die Rede ist von der Großfamilie El-Zein, ein Clan aus der türkisch-arabischen Volksgruppe der Mhallami. Ermittelt wird wegen bandenmäßigen Betrugs, Sozialhilfebetrugs in sechsstelliger Höhe, Geldwäsche und Schutzgelderpressung.
Es war ein weiter Weg bis zur Razzia in Leverkusen. In einigen Großstädten sind schon seit Jahren ganze Straßen, sogar Viertel in den Händen von Clans. In dieser Parallelwelt schert man sich weder um Integration noch um die deutsche Gesetzgebung - schon gar nicht, wenn es um so banale Dinge geht wie die Straßenverkehrsordnung. Im Ruhrgebiet türmen sich in einigen Städten Berge unbezahlter Strafzettel - für falsches Parken, für zu schnelles Fahren, für fahruntüchtige PKWs und ähnliches mehr. Mitglieder stadtbekannter Familien erhalten zwar immer wieder Zahlungsaufforderungen, bezahlt wird aber nicht. Und Gerichtsvollzieher loszuschicken, wäre nicht ohne Risiko.
Denn wenn Behördenvertreter sich in den Clan-Vierteln blicken lassen, verbreitet sich dies schnell. Innerhalb weniger Minuten sorgen zwanzig oder dreißig Clan-Mitglieder für eine bedrohliche Atmosphäre. Für unbeteiligte Nachbarn ist das mehr als unangenehm. "Die Aufregung ist dort am größten, wo Menschen selber betroffen sind, weil sie in ihrem Umfeld und in ihren Bezirken nicht mehr sicher sind - weil sie ihre Kinder nicht auf die Straße schicken können, weil manche rasen, weil Drogen verkauft werden", sagt der Psychologe Ahmad Mansour, ein exzellenter Kenner der Szene.
Zeugen werden bedroht oder gekauft
Natürlich sind viele der bundesweit geschätzt 200.000 Clan-Mitglieder nicht kriminell. Aber es gibt sie, die Kriminellen bei den Remmos, den Abou Chakers, den El-Zeins, den Miris, den Gomans und anderen. Familien, deren einziges Geschäftsmodell die organisierte Kriminalität ist und die auch vor Mord nicht zurückschrecken. "Wir haben hier Kriminalitätsstrukturen, die sich innerhalb von Familienverbünden entwickelt haben mit Rollenmodellen des großen Bruders, der den Nachwachsenden zeigt: Mit Kriminalität kann man Geld verdienen. Und das führt dazu, dass wir viel Kriminalität in diesen Familien haben", sagt der Chef des Bundeskriminalamtes, Holger Münch.

"Das Problem ist vor über 30 Jahren entstanden", sagt BKA-Chef München, "wir werden einen langen Atem haben müssen."
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Ahmed* kommt aus einer solchen, einer bekannten Familie. Er ist groß, muskelbepackt und tritt dominant auf. Seinen Namen will er nicht sagen, auch sein Geschäftsmodell behält er für sich. Aber es scheint sich zu lohnen. "Schau, der normale Arbeiter arbeitet 40 Stunden die Woche von Montag bis Freitag und verdient 1400 netto.** Das Geld brauchen wir schon allein, wenn wir heute oder morgen mit den Jungs essen gehen. Wie sollen wir davon leben oder unsere Miete bezahlen?" Dass sein Geschäftsmodell mit dem Gesetz kollidiert, stört Ahmed nicht. "Ich hatte mindestens schon 40 Anklagen gehabt in meinem Leben, und ich habe es mit meinem Anwalt geschafft, nicht im Knast zu landen, Gott sei Dank", sagt er offenherzig. Wenn Anwälte mal nicht helfen können, dann werden Zeugen massiv bedroht oder gekauft. Interne Unstimmigkeiten regeln sogenannte Friedensrichter.
"In meiner Erinnerung ist der Überfall auf ein Pokerturnier der entscheidende Wendepunkt gewesen, wo klar geworden ist, wir müssen dieses Kriminalitätsphänomen konsequenter angehen", berichtet Martin Steltner von der Berliner Generalstaatsanwaltschaft. Dieser Überfall fand 2010 statt. Als vor fünf Jahren immer häufiger von "No-Go-Areas" die Rede war, kam erneut Bewegung in das Thema. Die nordrhein-westfälische Landesregierung wollte die Szene analysieren und ließ zunächst ein Lagebild erstellen. NRW traf die Entscheidung, schon kleinste Vergehen konsequent zu ahnden. Knöllchen werden nicht nur schneller geschrieben, die Bußgelder werden auch einkassiert, mit polizeilicher Unterstützung.
"Follow the money"
Der nächste Schritt sind Razzien - viele Razzien. Polizei, Zoll, Finanzamt, Ordnungs- und Gesundheitsamt sowie Staatsanwaltschaften operieren gemeinsam, um Verstöße und Straftaten aufzudecken. Von Juli 2018 bis August 2021 gab es allein in Nordrhein-Westfalen 1800 Razzien, über 4500 Objekte wurden kontrolliert, darunter zahlreiche Shisha-Bars und Wettbüros. 2400 Strafanzeigen wurden erstattet, mehr als 12.000 Verwarngelder verhängt. Die Schwerpunktstaatsanwaltschaften operieren nach der Devise "follow the money", folge der Spur des Geldes. So versuchen sie aufzudecken, wie sich die einschlägigen Läden finanzieren, wie Immobilienkäufe abgewickelt werden und wie der neue Porsche eines Sozialleistungsbeziehers eigentlich bezahlt wurde. "Irgendwo muss natürlich ein Krimineller auch immer mit anderen kommunizieren, wenn es zum Beispiel darum geht, Vermögen zu investieren, und das sind Ansatzpunkte für unsere Ermittlungen", erläutert BKA-Chef Münch.
Eine der wichtigsten Maßnahmen, die Vermögensabschöpfung, wird zunehmend ausgebaut. Mittlerweile können Vermögenswerte beschlagnahmt werden, wenn nur der Verdacht besteht, dass sie mit illegal erworbenem Geld bezahlt wurden. Und während früher häufig illegal erwirtschaftetes Vermögen auf Dritte übertragen wurde, um es vor dem Zugriff zu bewahren, so kommen die Fahnder jetzt auch an solches Geld ran. Am Ende entscheiden nach wie vor die Richter. In Berlin haben schon 2 von 77 Immobilien des Remmo-Clans den Besitzer gewechselt und gehören nun dem Land. Auch Mieteinnahmen können einkassiert werden.
Doch die nicht so ehrenwerte Gesellschaft ist durchaus kreativ. Zum Beispiel der Goman-Clan, der sich mit viel krimineller Energie in den Bereichen Fassaden- und Terrassenreinigung oder im Gartenbau niedergelassen hat. Zahlreiche Briefkasten-Firmen offerieren in Tageszeitungen günstige Angebote. Leider nur gegen Vorkasse, und wenn bezahlt wird, dann sieht man die Arbeiter nicht wieder. Das Geld selbstverständlich auch nicht. Rückrufe werden umgeleitet, wie "Spiegel TV" berichtet, und irgendwann ist der Anschluss nicht mehr erreichbar.
Den Kriminellen soll es so schwer wie möglich gemacht werden
Andere haben überteuerte Schlüssel- oder Teppichreinigungsdienste zu einem lukrativen Geschäft ausgebaut. Weiterhin hoch im Kurs stehen Drogengeschäfte, Handel mit Medikamenten, Einbrüche und Betrügereien in allen Variationen, Geldverleih zu haarsträubenden Konditionen, Prostitution und gefährliche Körperverletzung. Dort, wo mit wenig Aufwand viel Geld zu holen ist, toben sich die kriminellen Familien nach wie vor aus. Gewaschen wird das Geld in legalen Geschäften, oder es wird ins Ausland transferiert, kommt auf Umwegen zurück nach Deutschland und wird hier investiert, etwa in Immobilien.
Trotz der verstärkten Bemühungen des Staates, ist nicht zu erwarten, dass die kriminellen Clans demnächst Geschichte sein werden. Aber ihnen das verbrecherische Leben so schwer wie möglich zu machen, dass ist das Ziel. "Ich will nur mal darauf hinweisen, dass es in Deutschland kein Immobilienregister gibt. Und so müssen wir mit aufwändigen Ermittlungen feststellen, ob jemand Geld zum Beispiel in irgendeiner Stadt in Deutschland in Immobilien angelegt hat", sagt Holger Münch. Hier gebe es noch Möglichkeiten, die Transparenz zu erhöhen und die Ermittlungsmethoden zu vereinfachen. Juristisch fordern viele den verstärkten Einsatz von Videoaufzeichnungen bei Zeugenbefragungen, damit diese nicht später umgedreht werden können. Der Informationsaustausch mit in- und ausländischen Behörden und Banken könnte noch deutlich ausgebaut werden. Und immer häufiger werden auch konsequente Abschiebungen von Clan-Straftätern gefordert. Es gibt also noch viel zu tun, sagt Münch. "Das Problem ist vor über 30 Jahren entstanden und wir werden einen langen Atem haben müssen."
*) Name geändert
**) Tatsächlich verdiente ein vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer im Jahr 2020 durchschnittlich 3975 Euro brutto im Monat, also auch netto mehr als von "Ahmed" angenommen.
Quelle: ntv.de