Politik

Reisners Blick auf die Front "Wir sehen, dass Russland gestoppt werden kann"

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Eine russische Brigade feuert Raketen gegen ukrainische Stellungen im Raum Bachmut

Eine russische Brigade feuert Raketen gegen ukrainische Stellungen im Raum Bachmut

(Foto: IMAGO/SNA)

Der Westen hat ein paar Fesseln gelöst: Seit zwei Wochen dürfen die Ukrainer mit Westwaffen auf Russland zielen, wenn auch nur in Grenznähe. Oberst Reisner analysiert für ntv.de die Effekte dieser Entscheidung auf die Front im Norden. Schon jetzt sind sie deutlicher als man erwartet hätte.

ntv.de: Seit etwa zwei Wochen dürfen die ukrainischen Truppen westliche Waffen auch gegen Ziele in Russland einsetzen. Macht sich das inzwischen bemerkbar?

Markus Reisner: Beide Seiten verbreiten Dutzende Videos jeden Tag von ihren Einsätzen an der Front. Vieles vom vorliegenden Material zeigt, wie die Ukraine versucht, hinter den vordersten, im Angriff befindlichen russischen Truppen Druck zu machen. Genau dort, wo sich die russische Logistik befindet. Russland ist dadurch gefordert, seine Logistiklinien in Ordnung zu bringen. Wenn erfolgreich Druck auf Logistik und Versorgungslinien gemacht wird, lassen die Lieferungen der russischen Armee an die Front automatisch nach, dort steht weniger Material zur Verfügung.

Das müsste sich doch ziemlich bald auch an der Front auswirken, oder?

Das sehen wir bereits. Dort, wo die Ukraine solche Angriffe durchführen konnte oder noch immer durchführt, hat sie zumindest punktuell die Initiative zurückgewinnen können.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag bei ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag bei ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

(Foto: ntv.de)

Das heißt, sie ist dort wieder die agierende Seite, die Russen reagieren?

Das ist zum Beispiel bei Lipzy, nördlich von Charkiw gelungen. Dort haben die Ukrainer einen Gegenangriff durchgeführt. Die Russen konnten dem nicht begegnen, weil es ihnen an Ressourcen mangelte. Sie konnten den Raum nicht weiter in Besitz nehmen und haben sich in den vergangenen 14 Tagen sogar zurückdrängen lassen. Die Frage ist: Wie lange lässt sich der Nachschub aufhalten? Werden die Russen es über die nächsten Tage und Wochen schaffen, sich wieder neu zu organisieren und erneut Ressourcen nach vorne zu schieben?

Und diesen Effekt können Sie mehrfach an der Front beobachten?

Östlich von Lipzy, bei Wowtschansk, sehen wir eine ähnliche Situation: Auf einen Angriff der Russen folgte nun ein Gegenangriff der Ukrainer. Momentan ist die Lage unklar, da tobt der Krieg auch im Informationsraum. Die Russen behaupten, sie hätten die Ukrainer eingekesselt, die Ukrainer behaupten, die Russen wären umzingelt. Die Wahrheit lässt sich derzeit schwer feststellen. Bilder, die uns vorliegen, zeigen, dass es zumindest zu schweren Kämpfen kommt und russische Truppen weiter vorgestoßen sind, aber möglicherweise unter starkem Druck der ukrainischen Seite stehen. Auch hier haben die ukrainischen Truppen die russischen Versorgungslinien angegriffen. Unter anderem auch mit westlichen Waffensystemen. Gerade aus der Region Wowtschansk gab es vor kurzem ein Video, das den Einsatz von GBU-39-Präzisionsbomben zeigte. Das ist eine westliche Luft-Boden-Waffe, die sich mit den Gleitbomben der Russen vergleichen lässt.

Sind das nur punktuelle Erfolge? Oder lässt sich daraus eine größere Veränderung der Lage ableiten?

Die Front hat sich stabilisiert. Auch der Vorstoß der Russen bei Sumy ist sehr begrenzt, der hat keinen Raum gefasst. Die ukrainischen Truppen haben es erstmal geschafft, die russische Offensive bei Charkiw auszubremsen und zum Stehen zu bringen. Es kann also durchaus sein, dass die Angriffe mit ATACMS- und HIMARS-Raketen so große Wirkung zeigen, dass es zu der geplanten russischen Offensive bislang nicht gekommen ist.

Das bedeutet?

Wir sehen, dass Russland gestoppt werden kann. Wenn der Westen den Willen hat, sich wirklich einzusetzen, dann ist das möglich. Tragisch ist, dass sich die Situation immer erst zuspitzen muss, bis die Unterstützer der Ukraine erkennen: Die Situation ist schlimm, wir müssen etwas tun! Dann tun sie was, sind danach beruhigt, verstehen aber nicht, dass man den Erfolg nähren müsste. Wenn wir wollen, dass der Erfolg der Ukraine aus den letzten zwei Wochen nachhaltig ist, dann darf die Hilfe nicht wieder abreißen.

Reicht es denn, das derzeitige Niveau zu halten?

Aus militärischer Sicht müsste man massive Angriffe mit unterschiedlichen Waffensystemen kurz hintereinander ausführen. Dies würde die russische Abwehr übersättigen, und das ist notwendig, um nachhaltige Erfolge zu erzielen. Dazu benötigt die Ukraine viele und hochwertige Wirkmittel. Was sie nicht verfügbar hat, muss geliefert werden.

Wie entscheidend ist hier der richtige Zeitpunkt?

Sehr entscheidend. Es reicht nicht, wenn diese massive Unterstützung nur anlassbezogen geliefert wird, also wenn sich die Lage für die Ukraine enorm zuspitzt. Diese Waffen müsste die Ukraine vor allem auch dann bekommen, wenn die Situation für sie günstig erscheint. So, wie wir sie jetzt gerade im Raum Charkiw erleben, aufgrund der Erlaubnis, Westwaffen auch gegen Ziele in Russland einzusetzen.

Wie sieht die Lage im Donbass aus? Dort ist die Front ja nicht nahe an der Grenze nach Russland, sondern mitten in der Ukraine. Für einen Angriff auf russisches Gebiet müssten die Ukrainer also weitreichendere Waffen nutzen.

Im Donbass kann ich solche positiven Effekte wie im Norden bislang nicht beobachten, dort rücken die Russen weiterhin jeden Tag zwischen 200 und 500 Meter vor. Das ist dieser elende Kampf von einem Windschutzgürtel, also einer Buschzeile, zur nächsten. Aber hier sehen wir: Der Druck der russischen Angreifer auf die Verteidigungstruppen der Ukraine ist nach wie vor groß und der Vormarsch findet kontinuierlich statt. Vor allem bei Otscheretyne hat sich der Brückenkopf der Russen in der zweiten Verteidigungslinie der Ukraine im letzten Monat stetig ausgeweitet.

Was passiert, wenn die Russen hier durchbrechen?

Wenn es zu einem signifikanten Durchbruch kommt, geraten die Versorgungslinien der Ukraine in Gefahr. Denn wenige Kilometer nordwestlich entfernt von dort verläuft eine sehr wichtige Versorgungsroute. Wenn die Russen diese Linie in Besitz nehmen können, führt das faktisch zu einer Unterbrechung des ukrainischen Nachschubs mit allen Versorgungsgütern. Darum wird dort von beiden Seiten aus mit aller Vehemenz gekämpft. Bei Tschassiw Jar spitzt sich die Situation ebenfalls zu. Dort versuchen die Russen mit aller Kraft, über den Donbass-Kanal zu kommen. Also anders als im Raum Charkiw können die Russen im Donbass nach wie vor an verschiedenen Abschnitten der Front nach vorn marschieren.

Versuchen die Ukrainer im Donbass nicht, jenseits der russischen Grenze die Logistik anzugreifen?

Wir bekommen kein Material, auf dem die russischen Truppen im Donbass massiv unter Druck sind. Zum Beispiel Bilder von explodierenden Munitionslagern, Bilder von zerstörten russischen Gefechtsständen, von brennenden Verladebahnhöfen. Rostow am Don, Woronesch, Kursk – das sind zentrale Verteiler- und Umschlagepunkte, von denen aus die Russen ihre Ressourcen an die Front führen. Dort sehen wir keine Angriffe. Anders als im Sommer 2022, als dieser schon fast "berühmte" HIMARS-Effekt auftrat und erfolgreiche Angriffe auf russische Nachschubwege und Depots vielfach dokumentiert wurden.

In dieser Zahl findet das nach wie vor nicht statt?

Es gibt Drohnenangriffe auf Infrastruktur in Russland, diese melden die Ukrainer jedoch nur, wenn sie auch erfolgreich waren. Und das sind nicht viele. Erfolgreiche Drohnenangriffe – wenn etwa ein Munitionslager explodiert oder eine Raffinerie – gibt es immer mal wieder, aber ob die auch einen nachhaltigen Effekt haben und den Nachschub für die Front schwächen, wissen wir nicht. Wir können nicht hinter die Kulissen schauen. Würden die russischen Offensivhandlungen weniger werden, dann wäre das ein messbares Ergebnis solcher Schläge auf die Infrastruktur. Im Raum Charkiw können wir das sehen, aber nicht im Donbass. Hier muss man abwarten.

Gibt es weitere Ziele, auf die die ukrainische Seite ihre Angriffe konzentriert?

Die Ukrainer setzen ATACMS- und HIMARS-Raketen vielfach gegen Fliegerabwehr-Stellungen ein, gegen russische S300- und S400-Systeme. So versucht Kiew, den Rahmen zu schaffen für zukünftige Einsätze der westlichen F-16-Kampfjets. Je weniger Luftverteidigungssysteme Russland zur Verfügung stehen, desto größer wird die Chance, dass die nun aufwendig ausgebildeten ukrainischen Piloten ihren Einsatz überleben. Dasselbe Ziel verfolgt man mit Angriffen auf Fliegerhorste in Russland. Wenn es gelingt, dort Kampfflugzeuge zu zerstören, sind auch diese im Luftkampf gegen ukrainische Jets nicht mehr verfügbar. Mir scheint, als habe die Ukraine die Entscheidung getroffen, ihre kostbaren Ressourcen an diesen Präzisionswaffen schwergewichtsmäßig so einzusetzen.

Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

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