Politik

Wahlerfolge in der Nische Wo die Kleinparteien zugelegt haben

255090710.jpg

Die aktuell stärkste Partei unterhalb der Fünf-Prozent-Schwelle: Die Freien Wähler verpassten den Einzug in den Bundestag.

(Foto: picture alliance / Goldmann)

Bei der Bundestagswahl gibt es eine ganze Reihe unbeachteter Gewinner: Unterhalb der Fünf-Prozent-Hürde werben Nischen- und Kleinstparteien Millionen Wähler ab. Wo liegen die Hochburgen der "verpufften" Stimmen?

Die Bundestagswahl ist gelaufen, die Diskussion konzentriert sich auf den Wahlsieg der SPD, das Debakel der Union und die anstehenden Koalitionsverhandlungen. Beim Blick auf das vorläufige Wahlergebnis wird aber auch deutlich: Die Kleinparteien haben im Vergleich zur Parlamentswahl 2017 bundesweit klare Zuwächse eingefahren. Die sogenannten sonstigen Parteien kommen demnach auf 8,6 Prozent der Zweitstimmen. Bei der zurückliegenden Bundestagswahl waren es dagegen nur 5,0 Prozent.

Wähler, die für eine der betroffen Nischen- oder Kleinstparteien stimmten, müssen nach der Wahl damit leben, dass ihre Stimme bei der Sitzverteilung im Parlament unberücksichtigt bleibt, ihre Wahlentscheidung verpufft. Diesmal betraf das 4,058 Millionen Zweitstimmen. Höher lag der Wert zuletzt nur bei der Bundestagswahl 2013. Damals waren aber mit AfD und FDP gleich zwei größere Parteien knapp an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert. Abgesehen von dieser Ausnahmesituation sind seit dem Jahr 1957 nicht mehr so viele Stimmen auf Kleinparteien entfallen wie in diesem Herbst. Wer wählt die zuweilen offenkundig chancenlosen Exoten?

Unterhalb der Fünf-Prozent-Hürde zeigen sich beachtliche Bewegungen: Gebündelt handelt es sich sogar um die drittgrößten Stimmgewinne nach Grünen und SPD. Hätte die Linke nicht drei Direktmandate einfahren und sich somit den Verbleib im Bundestag sichern können, wären in der außerparlamentarischen Parteienlandschaft sogar rund 13,5 Prozent der Stimmen versickert. Aber auch so hat fast jeder Zehnte eine Partei gewählt, von der kaum jemand erwartet haben dürfte, dass sie tatsächlich Sitze im Bundestag ergattert. Warum aber "verschwenden" so viele Menschen in Deutschland ihre Wahlstimme?

Der Politikwissenschaftler Jürgen Falter von der Universität Mainz sieht die Zuwendung zu den Kleinparteien in der Abkehr von den Volksparteien begründet. Diese habe vor allem mit einem Wandel der Gesellschaft zu tun, der die typische Wählerschaft von Union und SPD stark ausgedünnt habe. "Auf beiden Seiten ist sozusagen der Wurzelgrund verdorrt", erklärt Falter.

Langfristige Bindungen an die Volksparteien seien seltener geworden, betont er. Die Anzahl der Wechselwähler sei gestiegen. Weil es auch den Grünen bislang nicht gelungen sei, die Wähler derart stark zu binden, biete sich die Chance für andere politische Kräfte, sagt der Wahlforscher.

Außer den Freien Wählern hat niemand "die geringste Chance"

Den größten Stimmenanteil unter den Sonstigen haben - laut vorläufigem amtlichen Wahlergebnis - mit 2,4 Prozent die Freien Wähler eingefahren. Mit einigem Abstand dahinter folgen die Tierschutzpartei (1,5 Prozent), die Corona-Protestpartei "Die Basis" (1,4), das Satireprojekt "Die Partei" (1,0) und "Team Todenhöfer" (0,5). Mehr als drei Dutzend weitere Kleinstparteien haben Tausende weitere Zweitstimmen eingeworben.

Wieso wählten diesmal mehr Menschen in der Nische? "Wir sind eine hoch individualisierte Gesellschaft", erklärt der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. "Das waren wir vor 30, 40, 50 Jahren so auf keinen Fall." Auch auf dem Parteienmarkt würden mittlerweile individuelle Wahlmöglichkeiten eingefordert.

Falter sieht das ähnlich, macht aber auch deutlich: Das verhältnismäßig hohe Wahlergebnis für die Sonstigen hänge vor allem an den Freien Wählern. Sie seien die einzigen, die auf Bundesebene derzeit ein etwas größeres Potenzial hätten. "Die anderen sind wirklich kleine Parteien, die auch nicht die geringste Chance haben, die Fünf-Prozent-Hürde zu überspringen." Auf lokaler Ebene gebe es hingegen häufiger viel bessere Ergebnisse für die Kleinparteien.

Tatsächlich schneiden die kleinen Parteien regional unterschiedlich stark ab. Die Freien Wähler etwa kamen in einigen bayerischen Wahlkreisen teils auf Zweitstimmenanteile von knapp 15 Prozent. Damit liegen sie dort an zweiter Stelle hinter der CSU, mit der zusammen die Freien Wähler seit November 2018 die bayerische Landesregierung stellen. Andere Kleinparteien können von solchen Erfolgen bislang nur träumen.

Während die Tierschutzpartei vor allem um Berlin herum und im Saarland erfolgreich war, konnte die neu gegründete Partei des ehemaligen CDU-Politikers Jürgen Todenhöfer vor allem in urbanen Zentren punkten. Der 80-Jährige will sich gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr und Rassismus in Deutschland einsetzen. Seine Partei "Team Todenhöfer" pries er als "jugendlichste und weiblichste Partei" an.

Wie das "Team Todenhöfer" war auch die "Die Basis" zur Bundestagswahl 2021 zum ersten Mal angetreten. Die Partei positioniert sich gegen die in Deutschland geltenden Corona-Regeln. Damit konnte die "Basis" offenbar besonders im Süden der Republik Wähler überzeugen. Bundesweit entwickelt der parteipolitisch organisierte Ableger der Querdenken-Bewegung wenig Zugkraft. Abgesehen von regionalen Hochburgen wie Offenburg oder Rosenheim bleibt die "Basis" weitgehend bedeutungslos.

"Eine neu gegründete Partei hat eigentlich nur eine Chance, die Fünf-Prozent-Hürde zu überspringen", meint Wahlforscher Falter, "wenn sie ein Anliegen hat, das von vielen geteilt wird und das längerfristig angelegt ist." Als Paradebeispiel für eine erfolgreiche Parteineugründung verweist er auf die Entwicklung der Grünen seit den 1980er-Jahren. Die "Basis" hingegen sei bisher nur eine Ein-Themen-Partei und habe in Politikbereichen jenseits von Corona wenig zu bieten.

Auch Parteienforscher Merkel traut keiner der zuletzt angetretenen Kleinparteien einen baldigen Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde zu. Das derzeit im Parlament vertretene Parteienspektrum bietet seiner Einschätzung nach schon jetzt ein relativ breites Angebot politischer Facetten - "und das begrenzt den politischen Raum für Newcomer", so der Experte. Zwar gebe es einen deutlichen Zuwachs, von einem "dramatischen Anstieg" will er aber nicht sprechen.

Einer einzigen Kleinstpartei ist es diesmal dennoch gelungen, Sitz und Stimme im Bundestag zu ergattern: Der Südschleswigsche Wählerverband (SSW) ist als Partei einer nationalen Minderheit von der Fünf-Prozent-Hürde befreit. So können die Wähler der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein an der Gesetzgebung im Parlament trotz des vergleichsweise geringen Wahlergebnisses mitwirken. Der SSW kam laut amtlichem Wahlergebnis bei der Bundestagswahl 2021 auf immerhin 55.330 der abgegebenen Zweitstimmen.

Quelle: ntv.de, mit Material von dpa

ntv.de Dienste
Software
Social Networks
Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen