Antisemitismus grassiert Frieden ist möglich - aber nicht mit allen


Merz sagte in München "jeder Form des alten und des neuen Antisemitismus" den Kampf an.
(Foto: picture alliance/dpa)
Friedrich Merz hat geweint und den Antisemiten den Kampf angesagt. Der Kanzler halst sich damit einiges auf. Denn die Allianz gegen das jüdische Leben hat derzeit weltweit die Oberhand.
Als Friedrich Merz am Montag in München die Tränen kamen, stieg auch mir das Wasser in die Augen, 2700 Kilometer südöstlich vom Kanzler, in einer Wüste. Es hatte einen anderen Grund und doch denselben.
Der Kanzler stand vor der wiedererrichteten Synagoge Reichenbachstraße und sprach über den Holocaust, über das Böse, Hannah Arendt und die monströse Auslöschung des jüdischen Volkes. Ich stieg zur selben Zeit aus einem Bus in die Gluthitze und stand viel zu plötzlich in einem viel zu großen Wald von Fotos von jungen, hoffnungsfrohen Menschen, die von Hamas-Terroristen aus dem Gaza-Streifen wegen mutmaßlichem Jüdischsein auf teils bestialische Weise zu Tode gejagt wurden.
Auf den Fotos lachen die Toten überwiegend in die Kameras, lauter erst begonnene, abgebrochene Lebensläufe, und sie alle wurden im Zuge des Massakers auf dem Nova Festival ausgelöscht, aus Judenhass. Zwischen den aufgestellten Fotos stehen Trauernde, manche in Uniform, einige sprechen stimmlos mit den Ermordeten.
Wer je eine KZ-Gedenkstätte betreten hat, wird das Gefühl kennen. Es ist wie eine schreckliche Dusche, die einem sämtliche wohlige Illusionen über das Menschsein mit hartem Strahl von einer Sekunde auf die andere abwäscht: Ach so, ja, so sind wir als Spezies in Wirklichkeit, zu all dem sind wir in der Lage. Das radikale Böse ist real, nicht nur eine gut ausgedachte Horrorfantasie.
"Als Menschen verloren"
Diese Dusche in der Wüste ist allerdings nicht 80 Jahre alt, sondern zwei. Die Hinterbliebenen sind nicht Greise, die die Ehrwürdigkeit des Altseins umweht, es sind traumatisierte Twens, Eltern, Kinder, und sie sterben nicht aus, sie kämpfen ums Überleben.
Merz sprach in München über die kindliche Hoffnung Rachel Salamanders, der Hauptinitiatorin der Synagogenrestaurierung und Tochter von Überlebenden des Holocausts. Sie habe, zitierte der Kanzler, immer wieder die Frage gestellt, ob den Juden denn niemand geholfen hätte. Ohne die naive Hilfserwartung eines Kindes, "wären wir doch als Menschen verloren".
Manche Dinge scheinen sich nicht zu ändern. Vor wenigen Tagen habe ich über diese Hilfserwartung mit der Bewohnerin der überfallenen Siedlung Nir Oz nahe Gaza gesprochen, Irit Lahav. Sie beschrieb vor den ausgebrannten Ruinen der Wohnhäuser, wie sie sich am 7. Oktober mit ihrer Tochter vor den Terroristen verbarrikadierte, in Todesangst, im Ohr pausenloses Sturmgewehrfeuer und Schreie aus der Nachbarschaft.
Jüdisches Leben ist auf Hilfe angewiesen
Ihr heute bemerkenswert zahmes Gefühl gegenüber den Palästinensern, mit denen sie vorher noch in passabler, wenn auch durch Raketenfeuer geprägter Nachbarschaft lebte: Sie sei "enttäuscht". Sie, die sich als Linke beschreibt, begreife nicht, warum heute niemand helfe, warum niemand die Terroristen der Hamas verrate, etwa Standorte von Tunneln mitteile oder wo die Geiseln festgehalten werden.
Allem Brusttrommeln der israelischen Regierung zum Trotz: Jüdisches Leben ist auf Hilfe angewiesen. Das ist eine Tatsache. Genau die Hilfe, auf die Rachel Salamander und Irit Lahav oft vergeblich hofften.
Doch der Antisemitismus schwillt täglich an, auch in Deutschland, nicht trotz, sondern in Folge des 7. Oktobers. In Flensburg hat ein Ladenbesitzer ein Schild aufgehängt, auf dem er Juden Hausverbot erteilt - wegen Gaza. Das ist die Haltung, auf die der Kanzler trifft.
Vor Merz liegt ein steiniger Weg
Immerhin: Merz sagte in München "jeder Form des alten und des neuen Antisemitismus" den Kampf an. "Wir werden Antisemitismus auch im Gewand der vermeintlichen Freiheit der Kunst, der Kultur und der Wissenschaft nicht dulden."
Das ist ein gutes Zeichen, aber vor Merz liegt ein steiniger Weg. Die Allianz derer, die sich unter die Flagge eines modernen, politisch verbrämten Antisemitismus stellen, weil es dort deutlich gemütlicher ist als in der Nähe eines Davidsterns, ist breit und schlagkräftig, von Flensburg bis Genf.
Über linke NGOs lohnt es sich kaum noch zu debattieren. Amnesty International Deutschland etwa hat sich von der Aufgabe der Humanität offensichtlich komplett verabschiedet und schließt sich dieser Tage schäumenden Stellungnahmen an, die behaupten, "jeder" könne "Massengräuel" sehen, die die israelische Armee im Gaza-Streifen begehe. Wie das "jeder" kann, wenn niemand in den Gaza-Streifen gelangt, bleibt ihr Geheimnis.
Kontrolle der "jüdischen Lobby"
In dieser Woche machte die Nachricht die Runde, "die UN" habe einen Genozid in Israel festgestellt. Es handelt sich um einen Bericht des Menschenrechtsrats in Genf, der gerade einmal von drei Leuten verfasst wurde, überwiegend abgeschrieben aus einer Klage Südafrikas. Einer der Autoren war zuvor mit dem "Befund" zu hören, die sozialen Medien seien von der "jüdischen Lobby" kontrolliert und er frage sich, ob Israel überhaupt noch in den Vereinten Nationen sei.
Jemand, der den Staatenausschluss aus den UN nahelegt, was noch nie dagewesen ist, und mit antisemitischen Tropen wie der "jüdischen Lobby" argumentiert, soll also ein juristisches Gutachten über ein Geschehen im Kriegsgebiet von Gaza verfassen? Das ist in etwa so, als würde man die AfD-Politikerin Beatrix von Storch einen Report zum Klimawandel schreiben lassen.
Zu lesen ist von solchen Einwänden in hiesigen Medien freilich wenig. Warum? Beim propalästinensischen Aktivistensender in Gestalt des Deutschlandfunks ist das nicht verwunderlich. Dessen Chefkorrespondent hat kürzlich auf Instagram engagiert eine Getränkedose mit dem Schriftzug "Palestine" in die Kamera gehalten, um auch wirklich jede Fehlvorstellung über professionelle Objektivität auszuschließen.
Der blaue Wird-schon-seine-Richtigkeit-haben-Stempel
Bei anderen Medien mag es schlicht Bequemlichkeit sein: Der blaue Wird-schon-seine-Richtigkeit-haben-Stempel der ehemals ehrwürdigen UN ersetzt die journalistische Einordnung. In diesem Umfeld ist Merz' Bekenntnis tatsächlich nicht gratismutig. Will er wirklich gegen Antisemitismus kämpfen, muss er das auch international machen und sich dem Zerren seines Koalitionspartners, der Wackeligkeit einer EU-Chefkommissarin und einer breiten Aktivistenallianz entgegenstemmen.
Es würde helfen, wenn mehr der Gratismutigen Gaza-Aktivisten wie dem Flensburger Ladenbesitzer die Realitäten Israels vertraut wären. Diese Kolumne schreibe ich an einem Strand in Akko. Gefrühstückt habe ich in einem arabischen Imbiss mit Blick auf bunte jüdische Menoras. Hinter mir sitzt ein Christ aus Nazareth mit zwei Juden beim Bier. "Frieden ist möglich", sagen sie, "schaue es dir doch an!"
Ein Fünftel der Israelis sind Araber. In Israel leben allein 150.000 Drusen, das sind Araber, viele sind aus Syrien geflohen, wo sie kürzlich von Dschihadisten abgeschlachtet wurden - was in Europa und Deutschland nahezu niemanden interessierte, weil Massaker durch Araber zulasten anderer Araber schlecht zur politischen Profilbildung taugt.
Es zeigt: Frieden ist möglich - aber nicht mit allen Menschen. Und diesen anderen muss man den Kampf ansagen, nicht nur in Deutschland. Das ist etwas, was wir in ganz Europa wieder lernen müssen, schnell. Der Bundeskanzler scheint das zu verstehen. Ob er über die Standhaftigkeit verfügt, muss sich zeigen. Tränen allein reichen nicht.
Quelle: ntv.de