"Collinas Erben" wägen ab Ittrichs Idee hat Vorzüge und Nachteile
07.03.2022, 09:51 Uhr

Zeigt Ittrich dem Wolfsburger Arnold hier den Weg zu seinem Insta-Account?
(Foto: IMAGO/Jan Huebner)
In Wolfsburg ahndet Schiedsrichter Patrick Ittrich ein Foul der Gäste erst, als diese kurz danach ein Tor erzielen. Das ermöglicht eine Überprüfung durch den VAR, sorgt aber auch für Diskussionen. In einem Gespräch auf Instagram erklärt der Referee sein Vorgehen.
Als beim Spiel zwischen dem VfL Wolfsburg und dem 1. FC Union Berlin (1:0) die 54. Minute lief, ereignete sich eine Szene, die nicht nur für Gesprächsstoff sorgen sollte, sondern in regeltechnischer Hinsicht auch ungewöhnlich war. Beim Stand von 1:0 für die Gastgeber kam der Berliner Taiwo Awoniyi in Ballbesitz und setzte sich in der Mitte der Wolfsburger Hälfte gegen John Anthony Brooks und Maximilian Arnold durch. Er drang in den Strafraum ein und legte den Ball quer auf Sheraldo Becker, der ihn ins Tor der Hausherren schob. Doch bevor die Gäste ins Jubeln kamen, ertönte ein Pfiff von Schiedsrichter Patrick Ittrich.
Denn der Unparteiische hatte beim Zweikampf zwischen Awoniyi und Arnold einige Sekunden vor der Torerzielung ein Foulspiel des Angreifers wahrgenommen. Gepfiffen hatte er aber eben nicht sofort, sondern erst, nachdem der Ball die Torlinie überquert hatte. Man kennt dieses Prozedere vom Abseits: In knappen Situationen mit potenzieller Torgefahr sollen die Assistenten, wenn sie eine strafbare Abseitsstellung wahrnehmen, mit ihrem Fahnenzeichen warten, bis der Angriff beendet oder der Ball im Tor ist. Auch der Pfiff des Referees soll erst dann erfolgen.
Der Grund für diese Praxis hängt unmittelbar mit der Existenz des Video-Assistenten zusammen: Ertönt der Abseitspfiff erst nach der Torerzielung, dann kann der Treffer doch noch anerkannt werden, wenn der VAR bei der obligatorischen Überprüfung feststellt, dass kein Abseits vorlag. Ein sofortiger Pfiff nach einem unverzüglichen Fahnensignal dagegen unterbricht das Spiel automatisch und unwiderruflich. Ergäbe sich dann, dass die Entscheidung falsch ist, wäre der Angriff unwiederbringlich dahin. Diese Verzögerung, zu der es in Spielen ohne VAR nicht kommt, hat also einen klaren Sinn.
Warum die Assistenten beim Abseits die Fahne später heben als bei Fouls
Die entsprechende Anweisung gilt in dieser expliziten Form nur für Abseitssituationen, und das hat einen einleuchtenden Grund: Sie sind objektiv messbar, und weil es bei ihnen häufig äußerst knapp zugeht, kommt es naturgemäß vor, dass die Assistenten - deren Trefferquote bei weit über 90 Prozent liegt und somit überaus beachtlich ist - gelegentlich danebenliegen. Ist das bei einer Torerzielung der Fall, dann lässt sich der Fehler in der Regel schnell und eindeutig nachweisen. Es muss nichts interpretiert werden, deshalb genügt auch die Information durch den VAR; der Schiedsrichter schaut sich die Bilder in diesen Fällen nicht selbst am Monitor an.
Bei der Bewertung von Zweikämpfen und Handspielen dagegen ist das Ermessen des Unparteiischen gefragt. Deshalb sollen die Referees auf der Grundlage ihrer Wahrnehmung auf dem Feld prinzipiell sofort entscheiden. Bisweilen kommt es aber zu Situationen, in denen ein Tor fällt, das nicht mehr gegeben werden kann, weil der Schiedsrichter kurz zuvor wegen eines vermeintlichen Fouls oder Handspiels gepfiffen hat, damit jedoch eindeutig falsch lag. In solchen Fällen ist nicht nur die Aufregung häufig groß, sondern es wird dann auch die Frage laut, ob er mit dem Pfiff nicht einfach noch einen Moment hätte warten können - wie eben bei den Abseitssituationen.
Ittrich erklärt auf Instagram seine Entscheidung
Regeltechnisch steht dem zumindest nichts entgegen, und von Zeit zu Zeit geschieht es auch - wie eben beim Spiel in Wolfsburg. Patrick Ittrich gehört zu den immer noch relativ wenigen Schiedsrichtern im Profifußball, die gleich mehrere Social-Media-Kanäle gekonnt bespielen, und so hat er sein Vorgehen und seine Entscheidung in einem bemerkenswerten Live-Gespräch auf seinem Instagram-Account transparent gemacht. Gemeinsam mit Sascha Thielert, einem seiner Assistenten, diskutierte er darüber mit Oliver Seidler, der die Partie in der Konferenz des Senders Sky kommentiert hatte.
Er habe, wie auch sein in der Nähe befindlicher Assistent Christian Gittelmann, "ein Foulspiel von Awoniyi wahrgenommen, ein Ziehen am Trikot von Arnold", sagte Ittrich. Weil Sky-Kommentator Seidler diese Bewertung eher kritisch sah, machte der Unparteiische deutlich, dass sich besonders Vergehen wie Halten, Ziehen und Stoßen in den Fernsehbildern oft weniger klar und eindeutig darstellten als auf dem Feld, vor allem in der Zeitlupe. Aus diesem Grund sind die Video-Assistenten auch gehalten, sich bei diesen Vorgängen mit Eingriffen in besonderem Maße zurückzuhalten.
"Vielleicht hast du dich zu hunderttausend Prozent getäuscht"
Warum er nach dem Einsatz von Awoniyi gegen Arnold nicht gleich das Spiel unterbrochen hatte, erklärte Ittrich so: "Ich habe etwas gemacht, das nicht typisch, aber auch nicht verkehrt ist. Ich habe das Spiel weiterlaufen lassen, weil ich kurz gezögert habe: Pfeifst du sofort? In dem Moment sehe ich eine riesige Torchance und sage mir: Okay, vielleicht hast du dich zu hunderttausend Prozent getäuscht und lässt weiterspielen, damit der Video-Assistent eingreifen kann." VAR Markus Schmidt habe in der Kölner Videozentrale die Kommunikation über das Headset mitbekommen.
"Wir haben sofort gesagt: Stürmerfoul und 'delay'", so Ittrich weiter. "Delay", also "Verzögerung", ruft der Assistent an der Seitenlinie auch, wenn er in einer knappen Situation ein strafbares Abseits erkannt hat, aber wie vorgesehen erst nach dem Abschluss des Angriffs die Fahne heben wird. "Als das Tor gefallen ist, haben wir noch mal gesagt: Stürmerfoul", erklärte der 43-jährige Referee aus Hamburg weiter. "Das hat der Video-Assistent dann überprüft." Aber da keine offensichtliche Fehlentscheidung vorgelegen habe, sei die Entscheidung bestehen geblieben.
Schlüssig und vertretbar, aber auch irritierend
Das ungewöhnliche Vorgehen habe nicht nur Zustimmung ausgelöst, resümierte Patrick Ittrich selbstkritisch. "Hätte ich gleich gepfiffen, dann hätte es vielleicht keine Diskussionen gegeben, weil es nicht zum Torerfolg gekommen wäre. Das lässt die Seele natürlich hochkochen." Auch eine gewisse Irritation bei den Spielern war nicht zu übersehen - weniger über die Entscheidung selbst, die zweifellos vertretbar war, sondern über die Tatsache, dass sie erst mit mehreren Sekunden Verzögerung getroffen wurde, was die Spieler sonst nur vom Abseits kennen.
Dennoch war Ittrichs Hintergedanke ein schlüssiger und guter - hätte er im Verbund mit seinem Assistenten Gittelmann bei der Bewertung des Zweikampfs zwischen Awoniyi und Arnold völlig danebengelegen, dann wäre eine Korrektur noch möglich gewesen, und das Tor hätte zählen können. So aber führte die deutliche Verzögerung zu ein wenig Verwirrung, weil die Spieler ein derartiges Vorgehen bei mutmaßlichen Foulspielen nicht gewöhnt sind. Am wichtigsten ist es jedoch immer, dass die Entscheidung am Ende korrekt oder zumindest vertretbar ist. Und das war sie.
Quelle: ntv.de