Lob und Kritik von Ökonomen EU-Paket: "Historischer Paradigmenwechsel"
21.07.2020, 13:23 Uhr
Mit dem nach langen Verhandlungen beschlossenen Finanzpaket will sich die EU gegen den historischen Wirtschaftseinbruch stemmen. Wirtschaftswissenschaftler bewerten den Kompromiss unterschiedlich. Einige sehen in ihm eine Zeitenwende für die EU-Finanzpolitik.
Top-Ökonomen finden lobende und kritische Worte für das auf dem EU-Gipfel vereinbarte größte Finanzpaket in der Geschichte der Europäischen Union. "Der Wiederaufbaufonds schafft ein neues Instrument, um europäische Aufgaben gemeinsam zu bewältigen", sagte der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher. "Er ist der Startpunkt für eine Transformation in den Bereichen Klimaschutz und Digitalisierung, kann die europäische Wirtschaft neu und zukunftsfest aufstellen und besser für künftige Krisen wappnen." Auch wenn hierzulande viele erst einmal jammern dürften, sei der getroffene Kompromiss ein großer Gewinn - "gerade auch für Deutschland".
Kritischer sieht das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) die Vereinbarung, die einen 750 Milliarden Euro schweren Aufbaufonds für besonders schwer von der Corona-Pandemie betroffene EU-Staaten vorsieht - davon 390 Milliarden Euro als Zuschüsse, 360 Milliarden als Kredite. "Es ist gut, dass Europa sich in der schwersten Rezession der Nachkriegszeit handlungsfähig zeigt", sagte ZEW-Präsident Friedrich Heinemann.
Das Problem fehlender Wettbewerbsfähigkeit und geringer Wachstumsperspektive in Ländern wie Italien könne allerdings nicht mit Transfers und Krediten aus Brüssel gelöst werden. Hier würden nur Reformen der Arbeitsmärkte, der Verwaltung und des Bildungssystems helfen. "Eine große Gefahr ist, dass der kurzfristige EU-Geldsegen nun den Reformstau sogar verlängert", warnte Heinemann.
Zu einem durchwachsenen Urteil kommt das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW). "Mit dem erfolgreichen Abschluss des Gipfels sendet die EU ein Signal der Handlungsfähigkeit", sagte dessen Präsident Gabriel Felbermayr. Zeitgleich sieht er einen "historischen Paradigmenwechsel": Die "sparsamen Vier" hätten nicht verhindern können, dass die EU erstmals Schulden aufnehme und Zuwendungen von 390 Milliarden Euro ohne strenge Auflagen auszahle. "Es geht ganz klar in Richtung Fiskalkompetenz der EU", betonte der Ökonom. Er gehe zudem davon aus, dass die EU-Mitgliedschaft für Deutschland in Zukunft mit mehr Kosten verbunden sei.
Auch Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer sieht nach dem Gipfel eine grundlegende Veränderung der EU-Finanzverfassung. "Zum ersten Mal darf sich die EU in großem Stil am Kapitalmarkt verschulden", sagte Krämer. "Das wird auch kein einmaliger Vorgang sein. Wenn es in Zukunft zu einer neuen schweren Rezession kommt oder neue Herausforderungen wie der Klimawandel es erfordern, ist es gut möglich, dass die EU sich erneut in großem Umfang verschuldet."
Quelle: jrh/rts/DJ