Leben

Co-Abhängigkeit bei Alkoholismus "Da spielen sich große Dramen ab"

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Viele Co-Abhängige fühlen sich der Sucht eines nahestehenden Menschen oft hilflos ausgeliefert.

(Foto: imago images/Elnur)

Auch wenn die Alkoholsucht in erster Linie den Süchtigen selbst betrifft, greift sie oft sehr stark in das Leben von Angehörigen ein - viele werden co-abhängig. Was sie tun können, um mit der Sucht eines nahestehenden Menschen besser umgehen zu können, erklärt Life-Coach Julia Kessler.

Egal, ob der eigene Vater, der Freund oder die beste Freundin: Wer mit Alkoholkranken zu tun hat, gerät sehr schnell in eine Co-Abhängigkeit, meist in der Hoffnung, die Betroffenen so zum Aufhören zu bewegen. Warum das meist nicht funktioniert und was Angehörige wirklich tun können, um dem Suchtkranken zu helfen, erklärt Life-Coach und Buchautorin Julia Kessler im Interview mit ntv.de.

ntv.de: Warum ist Co-Abhängigkeit für Angehörige sehr problematisch?

Julia Kessler: Das Problematische ist, dass sich das Ganze erst einmal einschleicht. Man ist nicht von einem auf den anderen Tag Alkoholiker. Es kann sehr lange dauern, bis auch die Angehörigen die Wahrheit aussprechen und zugeben können, dass derjenige Alkoholiker ist. Bis dahin ist man meist komplett verstrickt in dieses Suchtsystem. Das Fatale daran ist, dass man probiert, die Sucht des anderen zu kontrollieren. Aber solange man das versucht, wird einen diese Sucht auch immer mehr kontrollieren, weil man etwas versucht zu kontrollieren, was unkontrollierbar ist. Wenn man Probleme aus dem Weg räumt, sich total anpasst und den Suchtkranken beim Arbeitgeber entschuldigt, kommt er leider meistens nicht zur Einsicht. Im Gegenteil: Das System, in dem er bequem weitertrinken kann, wird so am Laufen gehalten und die Angehörigen verlieren sich immer mehr selbst.

Welche konkreten Folgen hat das für den Co-Abhängigen?

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Julia Kessler war selbst mit einem alkoholkranken Partner zusammen und kennt die Qualen, die Co-Abhängige durchmachen. Heute hilft sie als Coach anderen Betroffenen, um mit der Sucht eines nahestehenden Menschen besser klarzukommen.

Die meisten Leute sitzen nur noch zu Hause und trauen sich gar nicht mehr, rauszugehen und sich mit einer Freundin zu treffen. Sie stellen sich andauernd Fragen wie: "Was passiert, wenn ich nicht zu Hause bin, ich die Kinder mit ihm alleine lasse oder er sich betrunken ins Auto setzt?" Das heißt, früher oder später wird in der Regel das ganze Leben komplett eingestellt und alles dreht sich nur noch um den anderen. "Was erwartet mich, wenn ich den Schlüssel im Schloss höre und er nach Hause kommt? Was ist, wenn ich jetzt eine Familienfeier plane und die Person vormittags um 11 Uhr schon bewusstlos in der Ecke liegt?" Das ist auch mit ganz viel Scham und Unberechenbarkeit behaftet. Selbst wenn man ins Bett geht, weiß man nicht, ob derjenige nachts aufsteht, sich betrinkt und ein Fiasko anrichtet. Viele Alkoholiker verschwinden dann auch und der Angehörige bekommt einen Anruf von der Polizei, weil derjenige irgendwo aufgegabelt wurde und in der Ausnüchterungszelle sitzt. Da spielen sich sehr große Dramen ab.

Sind Kinder von alkoholabhängigen Eltern automatisch co-abhängig und wie wirkt sich das auf das Familienleben aus?

Absolut. Das Problem ist, dass die Kinder meistens von Haus aus die Schuld bei sich suchen und dann beginnen, alles zu versuchen, damit die Beziehung zu den Eltern funktioniert, weil sie natürlich auf diese angewiesen sind. Das heißt, die Kinder passen sich an das System an und lernen, wie sie sich verhalten müssen, damit der Papa nicht so viel trinkt, oder was sie tun können, damit ein Streit nicht eskaliert. Sie nehmen eine Verantwortung auf sich, die sie gar nicht tragen können. Folglich verhalten die Kinder sich häufig vermeintlich unauffällig und angepasst, um es nicht noch schlimmer zu machen. Das erweckt häufig den Anschein, dass das Ganze gar nicht so schlimm ist.

Deswegen ist es sehr wichtig, dass man die Kinder nicht alleine lässt. Wenn ein Elternteil trinkt, dann sind die Kinder co-abhängig zu dem trinkenden Elternteil, aber auch noch zu dem co-abhängigen Elternteil. Denn wenn der Papa trinkt und die Mama offensichtlich leidet, probiert das Kind wahrscheinlich, ihr etwas von der Last abzunehmen und es wird versuchen, viel mehr alleine klarzukommen. Das Kind tut eben alles, damit es zu Hause einigermaßen erträglich wird. Deswegen ist es ganz wichtig, dass man den Kindern idealerweise eine professionelle Unterstützung zur Seite stellt.

Viele Menschen, die mit einem Alkoholkranken zu tun haben, versuchen diesem immer wieder vor Augen zu führen, wie sehr er sich und anderen mit seinem Trinken schadet. Sie hoffen damit, dass dieser zur Einsicht kommt. Was halten Sie von dieser Strategie?

Wenn ich in dieser Elternposition bin und dem anderen sage, was er tun soll, wird die Augenhöhe immer mehr zerstört. Damit wächst sogar die Wahrscheinlichkeit, dass der Suchtkranke sein Suchtmittel benutzt, um sich gefühlt wieder auf Augenhöhe zu bringen. Häufig hört man dann solche Sätze wie: "Du sagst mir doch nicht, wann ich ein Bier trinke und wann nicht". Das ist eine Dynamik, die einen nicht weiterbringt. Diese Diskussionen nehmen einerseits Energie und andererseits geben sie dem Suchtkranken nur Futter, um den eigenen Selbstwert zu demontieren. Man wertet sich dann oft nur noch gegenseitig ab oder macht sich in seiner Verunsicherung selber klein. Das geht oft so lange, bis meistens der Angehörige aufgibt, weil er merkt, dass er auf einem verlorenen Pfad steht. Er zweifelt die eigene Wahrnehmung an und der Suchtkranke kann genau diese Diskussion als Munition nutzen, um weiterhin keine Verantwortung zu übernehmen.

Wie kommt man da heraus?

Man könnte dem Alkoholkranken die Verantwortung zurückgeben und sagen: "Wir streiten uns seit Jahren über deinen Alkoholkonsum. Du sagst ja, du hast kein Alkoholproblem und du hast es im Griff und ich mische mich hier ein und bevormunde dich. Ich habe versucht, dir zu sagen, was du tun sollst. Ich höre jetzt auf damit und werde auch keine Flaschen mehr suchen. Du bist erwachsen und kannst selbst entscheiden, ob du trinkst. Das musst du auch nicht heimlich machen. Du alleine weißt, was für dich das Beste ist und wie du damit umgehen möchtest. Aber ich sehe das anders. Ich sehe, dass du alkoholkrank bist und mache mir große Sorgen. Mir geht es physisch und psychisch richtig schlecht damit und solange du trinkst, werde ich Konsequenzen ziehen."

Das heißt also, man kapituliert vor der Sucht des Betroffenen?

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Angehörige müssen erkennen, dass sie die Sucht eines anderen Menschen nicht kontrollieren können. Es gibt Fälle, wo jemand in einer teuren Privatklinik ist und Putzmittel trinkt. Jemand, der trinken will, wird trinken und man kann dagegen nichts tun. Deswegen ist es wichtig, dass man die Verantwortlichkeiten richtig zuordnet. Man ist auch nicht schuld daran, dass der andere trinkt oder ihm betrunken etwas passiert. Man sollte dem Alkoholkranken die Verantwortung zurückgeben. Das heißt, man zählt und sucht keine Flaschen mehr, sondern gibt ihm die Verantwortung komplett zurück, und zwar mit allen Konsequenzen. Im Umkehrschluss muss man auch die Verantwortung für sich und seine Co-Abhängigkeit übernehmen. Man sollte alles tun, um wieder in seine Kraft zu kommen und den Fokus auf Ressourcen, die außerhalb dieser Beziehung liegen, legen. Man darf sich trauen, alleine zum Sport zu gehen oder alleine in die Ferien zu fahren. So durchbricht man diesen Teufelskreis.

Aber das wird den Angehörigen sicher sehr schwerfallen, denjenigen einfach sich selbst zu überlassen.

Das ist auch schwer. Man kann aber nur Halt finden, indem man es loslässt. Solange ich daran festhalte, halte ich das System am Laufen. Die Menschen müssen verstehen, dass ihre ganzen Versuche zu helfen, bisher nicht zu einer Besserung geführt haben. Oft wird es immer schlimmer. Das Gefühl sagt zwar, dass es das Richtige ist, aber die Fakten sprechen eine andere Sprache. Es hat also keinen Sinn, an den Strategien festzuhalten, wenn man zusehen kann, wie die ganze Familie den Bach heruntergeht und alle immer kränker werden. Dann ist es eher der Beweis der Liebe, wenn man es schafft, loszulassen, und zwar für alle Beteiligten. Es ist die einzige Möglichkeit. Das ist natürlich nicht einfach und deswegen ist es wichtig, dass man sich professionelle Unterstützung holt. Ansonsten führt die Manipulation des Suchtkranken immer wieder zu den Schuldgefühlen und zur Angst zurück.

Ist die Chance beim Loslassen sogar höher, dass der Suchtkranke Einsicht zeigt und sein Verhalten ändert?

Das ist die einzige Chance. Wenn ich die ganze Zeit zu Hause sitze und alles tue, damit derjenige möglichst bequem weitertrinken kann - warum sollte er dann eine Motivation haben, mit dem Trinken aufzuhören? Natürlich gibt es keine Garantie. Aber es gibt die Garantie, dass ich mit dem Suchtkranken untergehe, wenn ich nicht loslasse. Viele Klienten haben schon die Erfahrung gemacht, dass genau dann sich die Dynamik verändert.

Wohin können sich Angehörige wenden, um den Sprung aus der Co-Abhängigkeit zu schaffen?

Der erste Schritt ist überhaupt erstmal, die Wahrheit anzunehmen und sich dann zum Beispiel einer Selbsthilfegruppe anzuschließen. Einfach hingehen und ausprobieren. Es gibt auch Facebook-Gruppen zur Co-Abhängigkeit, in denen man sich mit anderen austauschen kann. Ein Buch ist auch ein guter Einstieg, sich still und leise damit auseinanderzusetzen. Man kann einen Therapeuten aufsuchen oder sich einen Coach an die Seite holen. Idealerweise sollte man das Thema auf verschiedenen Ebenen angehen.

Mit Julia Kessler sprach Isabel Michael

(Dieser Artikel wurde am Freitag, 27. Mai 2022 erstmals veröffentlicht.)

Quelle: ntv.de, Julia Kessler

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