Leben

Heile Welt mit subversivem Touch Eine Schweizer Kindheit als "Ding"

Was uns heute fast romantisch erscheint - das Leben auf einem Bauernhof - war und ist harte Arbeit. Besonders, wenn sie von Kindern verrichtet wird.

Was uns heute fast romantisch erscheint - das Leben auf einem Bauernhof - war und ist harte Arbeit. Besonders, wenn sie von Kindern verrichtet wird.

(Foto: imago images/imagebroker)

Es ist eines der dunkelsten Kapitel der jüngeren Schweizer Geschichte: Hunderttausende Kinder wurden bis in die 1970er-Jahre verdingt und als Arbeitskräfte körperlich und seelisch ausgebeutet. Eines dieser nahezu rechtlosen Kinder war Ernst Nüssli, der Vater der Künstlerin Lika Nüssli. In "Starkes Ding" schildert sie in einprägsamen Schwarz-Weiß-Zeichnungen seine Geschichte, aus der Sicht des Kindes Ernst. Es ist eine Art heile, schöne Scheinwelt, die bei ihr einen subversiven Touch bekommt, denn schon früh sind im Buch immer wieder Details von Gewalt enthalten. Gerade hat Nüssli den Preis für das beste Comicbuch des Jahres in der Schweiz gewonnen. Mit ntv.de spricht sie über Vater, Pfarrer und Franken.

ntv.de: Am Ostermontag des Jahres 1949 musste Ihr Vater sein Zuhause verlassen. Der Elfjährige wurde von seinen Eltern zu einem Bauern geschickt, um auf dessen Hof zu arbeiten. Wie wurde er zum so genannten Verdingbuben?

Lika Nüssli: Es war ein Handel zwischen seinem Vater, also meinem Großvater, und einem Bauern namens Schweizer. Für einen Franken am Tag musste mein Vater 16 Stunden täglich körperliche Schwerstarbeit erledigen. Er bekam Prügel, wurde mit knurrendem Magen ins Bett geschickt, und in die Schule durfte er nur, wenn all seine Aufgaben geschafft waren. Dieses System der Verdingung gab es bis in die 1970er-Jahre, und es basierte absurderweise in sehr vielen Fällen auf der staatlichen Fürsorge, bei der oftmals Waisen, Halbwaisen und Kinder von Alleinerziehenden vermittelt wurden.

In Ihrem Comic wird deutlich, dass es im Grunde niemanden interessierte, wie es den Kindern erging, jegliche Kontrollinstanz versagte: Einmal schaut der Pfarrer im Auftrag der Gemeinde vorbei und lässt sich vom Bauern Schweizer mit einem simplen "Dem Bub geht's gut" abspeisen. Ihren Vater sehen oder selbst mit ihm sprechen wollte er nicht.

Das waren einfach nur Arbeitskräfte, die man verheizen und wie Sklaven ausbeuten konnte. Die beiden Männer lachen zusammen über den Satz des Pfarrers: "Andere haben einen Ochsen, um den Hornschlitten zu ziehen."

Wie lebendig ist die Diskussion heute in der Schweiz um das Thema?

Nachdem die Bundesrätin Simonetta Sommaruga 2013 bei den Opfern dieser Zwangsarbeit im Namen der Regierung für das erlittene Unrecht um Verzeihung gebeten hatte, wurden Entschädigungen zugesprochen und es begann die Aufarbeitung. Aber in der Schule wird bis heute nichts darüber gelehrt, Kinder und Jugendliche wissen kaum etwas über diese Zeit. Es wäre nötig, ein Bewusstsein dafür in der Gegenwart zu schaffen – etwa angesichts dessen, dass in der Schweiz Produkte, die aus Kinderarbeit in anderen Ländern entstehen, verkauft werden.

Hat Ihr Vater eine finanzielle Entschädigung bekommen?

Ja, 25.000 Franken. Für viereinhalb Jahre gestohlene Kindheit. Man musste sich melden, und er musste zweimal zu einer Psychologin und wurde befragt.

Wie war dieses Gespräch für ihn? Hatte er jemals in einer Therapie über das Erlebte geredet?

Es war nicht als Therapie gedacht, sondern als ein Beweismittel für die offizielle Stelle. Er musste zudem auch Zeugen benennen. Aber ich glaube, die Psychologin war gut für ihn. Ich denke, das war das erste Mal, dass er richtig viel über diese Zeit gesprochen hat.

Sie schildern in Ihrem Buch auch, wie Ihr Vater Ernst aufwuchs. Seine Familie war bettelarm.

Ja. Etwas, das sich mir eingeprägt hat, war, dass er zum Beispiel keine Unterwäsche hatte. Eine eigene Unterhose gab es damals für niemanden auf dem Land.

Die Mutter kümmerte sich zeitweise allein um die sieben Kinder, während ihr Mann beim Wehrdienst war. Die Kinder mussten sehr früh in der Landwirtschaft anpacken. Eine Zeichnung zeigt, wie Ihr Vater allein die Tiere auf der Weide hütet.

Er und seine Geschwister wollten ihren Teil beitragen und waren stolz darauf, was sie schon alles leisten konnten. Ich glaube: Es war eine strenge, aber auch herzliche Atmosphäre.

Die Bilder im ersten Drittel des Comics wirken harmonisch – beinahe Bullerbü-artig: die Geschwister bringen Ernst Butterbrote vorbei, wenn er die Kühe hütet. Es ist eine eingeschworene Kinderbande.

Ja, die haben ganz fest zusammengehalten. Doch harmonisch war es bei weitem nicht immer: Sie bekamen von ihrem Vater den Hintern versohlt, wenn sie nicht spurten. Das war damals ebenso normal wie die Praxis der Verdingung.

Was dann ja auch Ihrem Vater widerfährt, als er zum Bauern kommt. Damit ändern sich der Ton und die Bildsprache, alles wird roher, dunkler, horrorhafter, fratzenartiger – es ist das neue, grausame Leben von Ernst.

Ich wollte das Absurde, Alptraumhafte der Situation einfangen. Letztlich findet er sich in einer neuen Realität fern des Vertrauten, seiner Heimat, seiner Geschwister wieder.

Gleichzeitig flossen in Ihre Zeichnungen auch Elemente der Senntumsmalerei ein, einer Schweizer Kunstform aus dem 19. Jahrhundert. Was wollten Sie damit ausdrücken?

Diese naive Bauernmalerei ist typisch für die ländliche Gegend um Toggenburg in der Ostschweiz, in der mein Vater aufgewachsen ist. Sie ist bilderbuchartig, oftmals stimmen die Größenverhältnisse nicht, manche Figuren sind etwa übergroß gezeichnet. Ich fand die Senntumsmalerei gut dafür geeignet, um die Geschichte aus der Sicht des Kindes Ernst zu erzählen. Es ist eine Art heile, schöne Scheinwelt, die bei mir einen subversiven Touch bekommt: Es sind schon früh im Buch immer wieder Details von Gewalt enthalten.

Einige Bilder nehmen auch Bezug darauf, dass eine der Schwestern Ihres Vaters wahrscheinlich sexuell missbraucht wurde.

Ja, mein Vater wusste das gar nicht. Ich erfuhr es vor einigen Jahren von jemandem aus der Familie. Mir war es wichtig, dass ich neben dem Schicksal meines Vaters auch das der Mädchen thematisiere, die damals verdingt wurden.

Wie kamen Sie darauf, diese elende Zeit im Leben Ihres Vaters zum Thema Ihrer neuesten Arbeit zu machen?

Wir wussten in meiner Familie, dass mein Vater ein Verdingkind war, es wurde nicht totgeschwiegen. Aber häufig sprachen wir nicht darüber. Ich denke, er wollte mich auch nicht damit belasten. Ich wollte seine Geschichte schon seit einigen Jahren aufarbeiten und habe ihn immer wieder gebeten, mir mehr davon zu erzählen. Im Nachhinein verstand ich, dass man jemandem, der so etwas Unfassbares erlebt hat, nicht einfach sagen kann: "Erzähl mal!" Er wusste nicht, wie, hatte keine Sprache dafür. Wir sind dann über sachliche Detailfragen in seine Erinnerungen gerutscht. Das erste, was ich ihn gefragt habe, war, ob er sich noch erinnern kann, was er eingepackt hat, als er von daheim weg gehen musste. Er konnte sich nur noch daran erinnern, dass sich seine Kleider in einer kleinen Truhe befanden, die sein Vater auf dem Rücken trug –, und dass er eben keine Unterhosen besaß, die er hätte mitnehmen können. Über viele solcher Fragen sind wir dann auf andere Dinge gekommen, die er im ersten Moment nicht hätte erzählen können.

Wo haben Sie miteinander gesprochen, wie gibt man solch einem Thema Raum?

Tatsächlich übers Telefon. Ich war vor zwei Jahren in Belgrad und konnte während des dortigen Corona-Lockdowns sieben Wochen lang meine Wohnung nicht verlassen. Mein Vater – heute ist er 85 – war seinerseits im Altersheim in der Schweiz, und konnte ebenfalls nicht raus. Wir fingen damals an, viel zu telefonieren und haben über die Distanz eine neue Nähe entwickelt. Ich habe auch die Fragilität des Lebens gespürt und zu ihm gesagt, "jetzt möchte ich aber wirklich diese Geschichte machen, und wenn du einverstanden bist, fange ich an, Fragen an dich über deine Zeit als Verdingbub zu stellen." Er hat gespürt, dass es mich wirklich interessiert, und im Grunde haben wir über einen Zeitraum von zwei Jahren darüber gesprochen. Auch, als ich ihn dann wieder im Altersheim besuchen konnte.

Was war besonders aufwühlend für Sie während der Gespräche?

(Schweigt lange) Ich habe manchmal schon geweint. Ich habe ihn oft gebeten: Schreib’s doch auf. Aber das konnte er nicht so gut ­– er durfte ja als Kind nicht immer in die Schule gehen und hat nie richtig schreiben gelernt. Nach ein paar Monaten hat er es dann doch getan und mir über sein Heimweh geschrieben, das ihn beim Bauern gequält hatte. Als ich das gelesen habe, in dieser krakeligen Schrift, das war sehr berührend für mich.

Für viele Erwachsene ist es ungewohnt, sich ihre Eltern als Kinder vorzustellen.

Ja, genauso ging es mir, als ich die Figur meines Vaters zeichnerisch entwickelte. Ich habe lange daran gefeilt, um sie abstrakt genug für eine Projektionsfläche aber auch klar erkennbar als meinen Vater zu gestalten.

Der kleine Ernst hat sehr große Ohren, seine Haare stehen in einem widerspenstigen Büschel vom Kopf ab, er geht immerzu barfuß. Er hat kräftige Schultern und kann zupacken.

Als ich die Figur meines Vaters gefunden hatte, musste ich auch weinen, weil ich das Gefühl hatte: Jetzt begegne ich ihm als Jungen. So hatte ich ihn mir noch nie vorgestellt. Er war ja immer mein großer, starker Vater.

Was denken Sie, worunter hat Ihr Vater als Verdingbub am meisten gelitten?

Dass er von seinen Geschwistern getrennt war, die hat er sehr vermisst. Er hatte furchtbares Heimweh.

In der Trauma-Forschung wird untersucht, wie seelische Wunden vererbt werden und nicht nur das Leben direkt Betroffener prägen, sondern sich generationsübergreifend innerhalb einer Familie auswirken. Hatten Sie selbst mal den Eindruck, dass bei Ihnen etwas vom Leid Ihres Vaters zu spüren war?

Sehr oft sogar. Das Buch war die totale Psychohygiene für mich. Ich denke, dass ich viel von der Gefühlswelt meines Vaters übernommen habe. Gewisse Verhaltensweisen konnte ich mir aber erst mit meinem jetzigen Wissen um seine grausame Verdingzeit erklären. So explodieren wir etwa beide förmlich und werden aggressiv, wenn wir auf Ungerechtigkeit stoßen. Mein Vater geht in die Luft, wenn er mit Ämtern, staatlichen Institutionen, der Kirche zu tun hat. Ihr Versagen in seinem Fall hat ihn fürs Leben geprägt. Und: Als Kind litt ich zum Beispiel auch immer unter wahnsinnig starkem Heimweh. Meiner Tochter erging es ebenso. Ich denke, das wurde uns vererbt.

Ihr Comic schildert, wie sehr Ihr Vater unter Alpträumen litt. Wurde das im Laufe seines Lebens besser?

Nein, er ist bis heute ein unglaublich starker Träumer. Er sagt oft: "Jetzt habe ich wieder vom Schweizer Hof geträumt."

Was denken Sie, wie hat Ihr Vater sich da durchgekämpft? Woraus hat er Kraft gezogen?

Zum einen, dass seine Aufgaben mit den Tieren des Hofes zu tun hatten; das waren Wesen, zu denen er eine große Liebe hatte, die ihm Wärme gaben. Und zum anderen betrachtete er seinen Knochenjob als Aufgabe, die es zu erledigen galt und entwickelte ein ganz starkes Trotzgefühl. Er wollte beweisen, dass er sie schafft. Zum Glück war er körperlich stark und ging an der Arbeit nicht zu Grunde oder starb daran, wie es bei einigen Verdingkindern der Fall war. Außerdem besuchte er gerne, wenn er durfte, die Schule, und konnte immer wieder Freundschaften schließen.

Hat er den Bauern später noch mal gesehen?

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Ja, als er schon ein junger Mann war, hat er ihn in einer Kneipe getroffen. Sie haben dann zusammen getrunken. Einige Jahre später beging der Bauer Selbstmord. Verrückterweise kenne ich seinen Enkel, der ein bekannter Künstler ist. Irgendwann haben wir gemerkt, dass mein Vater bei seinem Großvater Verdingbub war. Er ist beinahe gleich alt wie mein Vater, und sie haben früher manchmal zusammen gespielt, wenn mein Vater ein bisschen Zeit frei bekommen hat. Der Künstler konnte mir auch noch einiges von früher erzählen. Dass sein Großvater ein böser Kerl war, der auch ihn geschlagen hat.

Mit 17 Jahren bekam Ernst von seinem Vater die Erlaubnis, beim Bauern Schweizer aufzuhören. Wie ging es dann weiter?

Sein Vater hat ihm eine neue Arbeit gesucht; er musste als Knecht für einige Jahre zu einem Onkel auf den Hof. Eine Ausbildung hat er nie gemacht. Später fuhr er mit einem Verkaufswagen für eine große Schweizer Supermarktkette über die Dörfer. Das hat ihm sehr gefallen, er ist ein guter Verkäufer, charmant. Bis er dann meine Mutter kennenlernte; sie hatte ein Wirtshaus, das sie zusammen führten. Er war der geborene Wirt, die Atmosphäre war so schön. Er hatte ein tolles, erfülltes Leben.

Die Liebe für Menschen ist ihm also trotz seiner Erfahrungen nicht abhandengekommen?

Es ist ambivalent: Auf der einen Seite denke ich, ist er sicher traumatisiert. Es fällt ihm manchmal schwer, Empathie zu zeigen – wahrscheinlich, weil er als Kind zum Selbstschutz gelernt hat, seine Gefühle abzuschotten, um zu überleben. Auf der anderen Seite ist er ein fröhlicher Mensch, der es geschafft hat, glücklich zu sein.

Mit Lika Nüssli sprach Frauke Rüth

Quelle: ntv.de

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