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Verantwortungsappell an Staat "Aufarbeitung nicht Täterzirkeln überlassen"

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Die Politikerin Angela Marquardt ist Mitglied des Betroffenenrats. Sie mahnt, dass "Familien als Tatorte" verstanden werden müssten.

Die Politikerin Angela Marquardt ist Mitglied des Betroffenenrats. Sie mahnt, dass "Familien als Tatorte" verstanden werden müssten.

(Foto: picture alliance / epd-bild)

Ob in Sport, Schule, Kirche oder der eigenen Familie: Jeder siebte Erwachsene in Deutschland erlebt in der Kindheit sexualisierte Gewalt. Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs mahnt deshalb mehr gesamtgesellschaftliche Verantwortung an.

Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hat in Berlin ein gesetzlich verankertes Recht auf Aufarbeitung für Betroffene gefordert. In ihrem Tätigkeitsbericht zur zweiten Laufzeit mahnen die Expertinnen und Experten eindringlich die Übernahme von staatlicher Verantwortung beim Umgang mit Missbrauchsfällen an. Eine gesetzliche Grundlage müsse die Stärkung der Rechte Betroffener umfassen und die dauerhafte Einrichtung der Kommission gewährleisten.

Hilfe bei sexuellem Missbrauch

Betroffene oder Menschen, die einen Missbrauch vermuten, können sich kostenfrei und anonym an das Hilfetelefon Sexueller Missbrauch wenden: 0800-22 55 530. Weitere Infos zu Beratungs- und Hilfeangeboten vor Ort gibt es unter: www.hilfeportal-missbrauch.de

Die Arbeit der Kommission besteht im Kern aus bundesweiten vertraulichen Anhörungen und aus der Auswertung schriftlicher Berichte von Betroffenen. Auf dieser Grundlage und in Absprache mit anderen Expertinnen und Experten verfasst die Kommission dann Empfehlungen und Anstöße, mit denen Kinder und Jugendliche künftig besser vor Missbrauch geschützt und erwachsene Betroffene unterstützt werden sollen.

"Recht auf Aufarbeitung muss dieses Jahr kommen"

Das geforderte Gesetz soll Betroffenen etwa Akteneinsichts- und Auskunftsrechte geben. Zudem sollen Institutionen zur Aufarbeitung verpflichtet werden. Stephan Rixen, Mitglied der Aufarbeitungskommission, erläuterte bei der Vorstellung der Ergebnisse, die Einsicht in die eigenen Akten – etwa in Jugendämtern – könne Betroffenen Auskunft darüber geben, wo es auf institutioneller Ebene Versäumnisse gegeben hat. Oder wo Menschen in der Bearbeitung von Missbrauchsfällen aktiv weggeschaut haben.

Rixen drängte zudem auf schnelles Handeln und mahnte, der Staat müsse endlich "von der Bremse treten". Noch sei die Bereitschaft der Politik, in Fragen der Missbrauchsaufarbeitung voranzugehen, überschaubar. Doch wenn der Staat nicht vorangeht, werde es letztlich schwierig. Kommissionsmitglied Barbara Kavemann betonte, der Staat habe den klaren Auftrag, mit seinen Strukturen Kinder und Jugendliche besser zu schützen. "Wenn man die Aufarbeitung den Täterzirkeln selbst überlässt, stößt man irgendwann an Grenzen". Angela Marquardt, SPD-Politikerin und Mitglied des Betroffenenrats der Missbrauchsbeauftragten, legte nach und forderte: "Das Gesetz muss noch dieses Jahr kommen".

Es geht um Verantwortung

Verantwortung zu übernehmen sei nicht nur Aufgabe des Staates oder von Institutionen wie Schule oder Kirche. Es sei auch eine gesellschaftliche Aufgabe, sagte Marquardt. Noch immer werde sich bei dem Thema Kindesmissbrauch "viel zu häufig weggeduckt". Fast drei Viertel der Meldungen, die die Kommission erreichen, beziehen sich laut Kavemann auf Missbrauch in Familien. Und obwohl das Thema mittlerweile in der breiten Gesellschaft angekommen sei, würde der wichtige nächste Schritt oft noch ausbleiben: nämlich zu akzeptieren, dass sexueller Missbrauch auch in der eigenen Familie vorkommen kann.

Mit diesem Schritt würden viele Menschen noch hadern, doch er sei essenziell, um ein Bewusstsein für das Thema zu schaffen. Die Kommission versteht Aufarbeitung als einen andauernden Lernprozess, der in allen Bereichen - in Institutionen und in der Familie - aktiv weitergeführt werden muss. Denn sexueller Missbrauch von Kindern finde letztlich überall statt. Auch die Familie müsste "als Tatort verstanden werden", regte Marquardt an.

Über 2000 Betroffene berichten

Die Aufarbeitungskommission untersucht seit 2016 Ausmaß, Art und Folgen sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in der DDR und in der BRD ab 1949. Die erste Laufzeit endete im März 2019, das Bundeskabinett verlängerte die Arbeit der Kommission aber zunächst bis Ende 2023. Im November letzten Jahres erfolgte dann die zweite Verlängerung bis zum 31. Dezember 2025.

Von 2016 bis 2023 erfasste die Kommission 2612 Berichte von Betroffenen, teils schriftlich, teils in persönlichen Gesprächen. Einige dieser Berichte lassen sich auf dem sogenannten Geschichtenportal nachlesen. Diese Geschichten sollen sichtbar machen, mit welchen Folgen betroffene Menschen zu kämpfen haben. Und sie sollen anderen Betroffenen Mut und Kraft spenden, über die eigenen Erfahrungen zu sprechen - und so das Geschehene zu bewältigen.

Quelle: ntv.de

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