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Entvölkerung in der Ukraine "Je länger der Krieg dauert, desto größer werden die Verluste sein"

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"Wenn mein Mann stirbt, habe ich ein Kind von einem geliebten Menschen, die Familie wird fortbestehen."

"Wenn mein Mann stirbt, habe ich ein Kind von einem geliebten Menschen, die Familie wird fortbestehen."

(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)

Die Ukraine steht jeden Tag unter Beschuss, nicht nur Soldaten, auch Zivilisten werden getötet. Auch wenn die Berechnung demografischer Veränderungen in Kriegszeiten nicht möglich ist, so ist doch klar: Die Ukraine rutscht in eine demografische Krise. Schon vor Beginn der großen Invasion durch Russland lag die Geburtenrate nur bei 1,1 Geburten pro Frau. Während des Krieges dürfte sich dieser Wert noch verschlechtert haben. Was das bedeutet, erklärt Svitlana Aksyonova im Interview mit ntv.de. Sie ist eine der führenden Wissenschaftlerinnen am Ptukha-Institut für Demographie und Sozialstudien der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine.

ntv.de: Frau Aksyonova, wie wirkt sich der Krieg, das viele Sterben, auf die Demografie der Ukraine aus?

Svitlana Aksyonova: Die demografische Situation im Land verschlimmert sich rapide. Je länger der Krieg dauert, desto größer werden die Verluste sein: Die Zahl der Opfer steigt täglich, nicht nur unter den Militärs, sondern auch unter der Zivilbevölkerung. Immer wieder gibt es Meldungen über vermisste Personen und ukrainische Bürger, die illegal nach Russland verschleppt wurden. Derzeit haben wir keine vollständigen Informationen über die Verluste. Aber auch nach Beendigung des Krieges wird es schwierig sein, diese Verluste zu beziffern.

Weil Menschen nicht nur durch Raketen zu Tode kommen?

Ja, sie sterben auch aufgrund des Stresses, den der Krieg bedingt, aufgrund unzureichender medizinischer Versorgung, vor allem an der Front. Wegen unterbrochener Logistikketten können Patienten nicht mehr versorgt werden, ihnen fehlen lebenswichtige Medikamente. Auch manche Verletzungen oder psychische Traumata verringern die Lebenserwartung.

Ist prognostizierbar, ob geflüchtete Ukrainer aus dem Ausland zurückkehren werden?

Die letzten Umfragen zeigen, dass der Anteil derjenigen, die zuversichtlich sind, in die Ukraine zurückzukehren, abnimmt, je länger der Krieg andauert. Unter den Kriegsflüchtlingen sind viele Frauen im gebärfähigen Alter, und da Männer und Frauen im arbeitsfähigen Alter an der Front für unsere Unabhängigkeit kämpfen, ist es unvermeidlich, dass die Bevölkerung schneller altern wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass in bestimmten Altersgruppen ein Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern entsteht, nimmt zu. Der Krieg löst eine demografische Welle aus, die die Geschlechter- und Altersstruktur der Bevölkerung verändert. Die Folgen dieser Veränderungen werden noch sehr lange zu spüren sein.

Wie wirkt sich der Krieg auf die Geburtenrate in der Ukraine aus?

Die Geburtenrate war bereits vor der umfassenden Invasion die niedrigste unter allen europäischen Ländern. 2021 beispielsweise wurden 272.000 Kinder geboren, nur halb so viele wie in den ersten Jahren der Unabhängigkeit des Landes. Es gab nur 1,1 Geburten pro Frau (Gesamtfruchtbarkeitsrate). Durch Covid-19 wurde die demografische Situation weiter erschwert. Allein 2021 starben in der Ukraine 86.000 Menschen durch die Pandemie, sie stand an zweiter Stelle aller Todesursachen. Familien, die auf das Ende der Pandemie gewartet hatten, um ein gesundes Kind zur Welt zu bringen, sahen sich gezwungen, eine Schwangerschaft erneut zu verschieben, bis der Krieg zu Ende ist. Das kann schließlich dazu führen, dass die betreffende Frau überhaupt kein Kind bekommt oder zumindest kein zweites.

Warum entscheiden sich Menschen trotz aller Hindernisse in solch schwierigen Zeiten für ein Kind?

Der Krieg verschont leider auch Kinder nicht. Viele Menschen empfinden ein Gefühl der Verwundbarkeit und Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens. Mit Blick darauf kommt es vor, dass einige Menschen mehr Kinder haben möchten als sonst - gewissermaßen, um potenzielle Verluste zu ersetzen. Dies erklärt sich aus den Veränderungen in der Psyche von Menschen, die in ihrem Leben schreckliche Ereignisse erlebt haben. Es ist jedoch anzumerken, dass der Wert von Kindern in der ukrainischen Gesellschaft schon immer eine Priorität war.

Interviews über Kinderwünsche während des Krieges sowie Umfragen haben jedoch gezeigt, dass die Verantwortung in diesem Bereich unterschiedlich wahrgenommen wird. Eine Gruppe von Frauen hält es für unverantwortlich, unter den gefährlichen Bedingungen des Krieges ein Kind zu bekommen, während eine andere Gruppe - in der Regel Ehefrauen von Militärangehörigen - im Gegenteil die Verantwortung darin sieht, ein Kind zur Welt zu bringen. Antworten aus dieser Gruppe von Frauen lauteten häufig etwas wie: "Wenn mein Mann stirbt, habe ich ein Kind von einem geliebten Menschen, die Familie wird fortbestehen."

Wird sich die Situation nach dem Krieg ändern?

Nach dem Ende des Krieges wird die Geburtenrate zwangsläufig etwas ansteigen, da aufgeschobene Geburten nachgeholt werden. Aber es gibt Zweifel, ob die Geburtenrate wieder einen hohen Stand erreichen kann, womöglich einen Babyboom. Ist ein Ehepartner gestorben, verhindert das ein weiteres Kind. Der Tod junger Männer führt zum Verlust potenzieller Partner für Frauen. Hinzukommen zerstörte Siedlungen, zerstörte Wohnungen und Infrastruktur, ein Rückgang der Familienfürsorge, Probleme mit der Beschäftigung, Sozialleistungen und dergleichen. Am wichtigsten ist jedoch die Schaffung eines sicheren Raums für Kinder.

Was kann die Ukraine tun, um die demografische Krise zu mildern?

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Derzeit wird eine Strategie ausgearbeitet, um nicht nur die demografische Krise abzumildern und ihren negativen Auswirkungen entgegenzuwirken, sondern auch die Lebensqualität allgemein zu verbessern. Dabei muss es sich notwendigerweise um einen Komplex verschiedener Maßnahmen handeln. In der Nachkriegszeit wird man viele Arbeitskräfte brauchen, darum wird es zum Beispiel äußerst wichtig sein, Beschäftigung mit der Geburt eines Kindes vereinbaren zu können. Etwa durch bezahlten Urlaub, soziale Kinderbetreuungsdienste, bessere Gesundheitsversorgung, Gleichstellung der Geschlechter. Und man sollte fördern, dass sich Väter stärker am Familienleben beteiligen.

Mit Svitlana Aksyonova sprach Maryna Bratchyk

Quelle: ntv.de

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