Panorama

Genie und größte Einsamkeit Paris zeigt van Goghs letzten Schaffensrausch

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Bis zum Februar ist die Ausstellung noch in Paris zu sehen.

Bis zum Februar ist die Ausstellung noch in Paris zu sehen.

(Foto: picture alliance / Xinhua News Agency)

Vincent van Gogh verbrachte die letzten 70 Tage seines Lebens in Auvers-sur-Oise. Dort malte er in atemberaubendem Tempo eine Fülle seiner schönsten und rätselhaftesten Bilder. Die meisten sind in einer sensationellen Pariser Schau zu sehen - aber nicht mehr lange.

Der Friedhof von Auvers-sur-Oise liegt am Rand des kleinen Ortes, gleich dahinter beginnen die Felder. Direkt an der Friedhofsmauer befinden sich die schlichten Gräber der Geschwister Vincent und Theo van Gogh. In Auvers, etwa 50 Kilometer von Paris entfernt, hatte sich der Maler am 27. Juli 1890 in die Brust geschossen, zwei Tage später starb er im Beisein seines Bruders. Den Versuch, doch noch ein erfolgreiches Leben als Künstler zu führen, betrachtete Vincent van Gogh als gescheitert. Wenige Tage vor seinem Suizid schrieb er Theo: "Die Aussichten werden immer düsterer, ich sehe überhaupt keine glückliche Zukunft mehr."

Nur etwas mehr als zwei Monate vor seinem Tod hatte Vincent van Gogh einen konfliktreichen Besuch seines Bruders in Paris abgebrochen, weil sich einmal mehr Hoffnungen auf ein sicheres Einkommen durch den Verkauf seiner Bilder zerschlagen hatten. Der handfeste Streit mit Paul Gauguin in Arles und der Aufenthalt in der Nervenheilanstalt von Saint-Rémy hatten Spuren hinterlassen, van Gogh beschloss umzuziehen: Er wollte auf dem Land und doch in der Nähe seines Bruders wohnen. Theo, der nach wie vor fest an ihn glaubte, unterstützte Vincent weiterhin finanziell: "Man kann ihn nicht fallen lassen, wenn er so hart und so gut arbeitet."

Kaum angekommen, notierte van Gogh: "Auvers ist sehr schön, wirklich durch und durch schön." Der Weiler war kein Künstlerdorf wie Pont-Aven in der Bretagne. Dass sich trotzdem immer wieder bedeutende Maler in Auvers aufhielten, hatte mit dem kunstsinnigen Arzt Paul Gachet zu tun, dessen Spezialgebiet "Melancholie" war, also Depressionen. Auch van Gogh hoffte auf Linderung seiner seelischen Qualen durch die Behandlung des Mediziners, glaubte aber bald, dass sich da die zwei Richtigen gefunden hatten, wie er Theo wissen ließ: "Ich denke, dass wir nicht auf Dr. Gachet zählen dürfen. Erstens ist er kränker als ich, glaube ich, oder sagen wir, genauso krank, und damit hat es sich." Denn schließlich: "Wenn nun ein Blinder einen anderen Blinden führt, fallen sie dann nicht beide in den Graben?"

Kreativer Rausch ohnegleichen

Trotzdem - oder vielleicht gerade deshalb: Für van Gogh waren die 70 Tage in Auvers der Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens. Er malte sich von der Seele, was er der Welt, die ihn nicht verstand, mitzuteilen hatte, erlebte einen kreativen Rausch ohnegleichen, schuf 74 Gemälde, 57 Zeichnungen und seine einzige bekannte Radierung. Noch nie hat sich bisher eine Ausstellung diesen zwei Monaten gewidmet. Was nicht verwundert: Es mussten sich erst zwei Hochkaräter zusammentun, um die Lücke schließen zu können: Das Amsterdamer Van Gogh Museum und das Pariser Musée d'Orsay, das ebenfalls eine bedeutende Sammlung des Niederländers besitzt, organisierten das Spektakel gemeinsam.

Die Schau, die schon in Amsterdam zu bewundern war und nun in Paris Station macht, toppt sämtliche Van-Gogh-Ausstellungen der vergangenen Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. Zu sehen sind nicht weniger als 45 Gemälde und 23 Zeichnungen aus Auvers - eine kuratorische und wissenschaftliche Höchstleistung, wie sie nur Museen dieser Bedeutung schaffen können. Allerdings: Wer die Meisterwerke noch betrachten will, muss sich sputen. Das Happening endet offiziell am 4. Februar.

Wer es noch schafft, wird reich belohnt: Unter den Gemälden befinden sich ikonische Bilder wie eine der zwei Versionen des Porträts von Gachet, "Die Kirche von Auvers" und "Weizenfeld mit Krähen". Letztgenanntes gehört zu den Werken, die den Höhepunkt der Ausstellung bilden: die Serie der fünfzig mal hundert Zentimeter großen Querformate, die möglicherweise als Zyklus gedacht waren. Von den 13 Gemälden fehlt nur ein einziges in der Ausstellung.

Erregung bis zur Ohnmacht

Gerade die Querformate gewähren einen tiefen Einblick in das Innenleben van Goghs als Mensch und Künstler. In ihnen erklärt sich sein Verhältnis zu Landschaft und Zivilisation, Tradition und Moderne sowie dem Spannungsfeld, das sich für den Maler aus den damit verbundenen - sichtbaren und gefühlten - Kontrasten ergab. In Auvers schaffte van Gogh jene Bilder, in denen er den "leidenschaftlichen" oder "schmerzerfüllten Ausdruck" für alle Ewigkeiten festhielt, der uns heute noch in den Bann zieht. "Die Erregung, die mich angesichts der Natur ergreift, steigert sich bei mir bis zur Ohnmacht", schrieb er in einem seiner vielen Briefe.

Obwohl Auvers im Sommer ziemlich voll von Erntehelfern gewesen sein dürfte, sind die Querformate so gut wie menschenleer. Hier zeigt sich ein tiefes Gefühl von Einsamkeit, Kummer und Aufgabe aus dem Glauben heraus, dass er unverstanden bleibe und sein Tun "sinnlos" sei, wie van Gogh es tatsächlich formulierte, bevor er sich das Leben nahm. Allein auf "Unterholz mit wandelndem Paar", das das Cincinnati Art Museum beisteuerte, sind Menschen schemenhaft zu sehen. Van Gogh hielt dazu fest: "Unterholz, violette Stämme von Pappeln, die die Landschaft senkrecht wie Säulen durchqueren."

Die zwei Leute - ein Liebespaar? - erwähnt der Künstler nicht. Auf dem Bild wirken sie verloren und eingeengt, fast erdrückt von der Umgebung. Verzweiflung und Hoffnung sind in den Querformaten das große Thema. "Weizenfeld mit Krähen" erscheint dem Betrachter regelrecht bedrohlich. Der finstere Himmel mit den schwarzen Vögeln steht im Widerspruch zu den im Wind wogenden Weizenhalmen in leuchtendem Gelb. Die drei Wege lassen kein Entkommen zu.

Der Maler über seinen Zustand: "Ich fühle mich erschöpft. So viel zu mir - ich fühle, dass dies das Los ist, das ich akzeptiere und das sich nicht ändern wird." Und: "Ich fühle mich auf ganzer Linie gescheitert." Van Gogh hatte Zeit seines kurzen Lebens ein gutes Gefühl für sich und sein Können. Bei der Selbsteinschätzung am Ende seines Lebens lag er jedoch falsch. Wer sich davon überzeugen will, möge rasch nach Paris fahren.

Quelle: ntv.de

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