2G-plus-Chaos in Deutschland Wer gilt wo als geboostert?
20.01.2022, 17:40 Uhr
In fast allen Bundesländern gilt in Restaurants mittlerweile die 2G-plus-Regel.
(Foto: picture alliance / NurPhoto)
Wer geboostert ist, muss sich unter 2G-plus-Bedingungen beim Einlass nicht zusätzlich testen lassen. Aber was zählt als Booster? Die dritte Impfung? Eine Infektion nach Doppelimpfung? Jedes Bundesland hat unterschiedliche Regeln.
Die weitreichenden 2G-plus-Regeln im öffentlichen Leben besagen, dass Menschen nach ihrer dritten Corona-Impfung beim Einlass zum Beispiel ins Restaurant oder zu einer Veranstaltung von der zusätzlichen Testpflicht befreit sind. Doch was ist mit denen, die zwar doppelt geimpft sind, sich aber vor ihrer Booster-Spritze infiziert haben?
Deutschlandweit gibt es aber noch vier weitere Auslegungen der 2G-plus-Regel. Sie reichen von ganz streng bis sehr locker. Sachsen-Anhalt zum Beispiel lässt gar keine Ausnahmen zu. Dort müssen selbst Geboosterte bei 2G plus noch einen negativen Test vorweisen.
Sachsen sieht es locker
Bayern, Hamburg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen handhaben das neue Regelwerk dagegen locker. Wer dreimal geimpft ist, ist gleichgestellt mit Menschen, die zweimal geimpft und einmal genesen sind.
In Sachsen genießen die Menschen noch mehr Freiheiten: Hier brauchen sich auch zweifach Geimpfte nicht zusätzlich testen zu lassen, wenn die zweite Impfung nicht länger als drei Monate zurückliegt.
In Baden-Württemberg, Bremen, Hessen und Rheinland-Pfalz gilt diese Regelung ebenfalls, aber mit einer Ergänzung: Auch Ungeimpfte, die innerhalb der letzten drei Monate infiziert waren, sind von der Testpflicht befreit.
Gerechtfertigtes Regel-Wirrwarr?
Ein Regel-Chaos, das für Verwirrung sorgt. Aber wenigstens gerechtfertigt ist?
Andreas Thiel, Immunologe von der Berliner Charité, ist skeptisch. Er würde drei Impfungen mit zwei Impfungen plus Infektion gleichsetzen. "Das macht wahrscheinlich erst mal nicht so einen großen Unterschied. Es gibt wahrscheinlich nur kleine Unterschiede. Es kann sein, dass nach einer natürlichen Infektion bestimmte Antikörper an den Grenzflächen, also an den Schleimhäuten, ein bisschen stabiler sind", erklärt der Experte im ntv-Podcast "Wieder was gelernt".
Noch gebe es dazu aber keine belastbaren wissenschaftlichen Daten. Es sei jedoch ohnehin nicht zu erwarten, dass es einen "statistisch signifikanten Unterschied" im Vergleich von dreifach zu zweifach Geimpften mit Infektion gebe. "Man muss auch auf die alten Studien zurückgreifen, die zeigen, dass eine natürliche Infektion noch nicht mal ein Jahr schützt", sagt Thiel. Basierend auf den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen hält es Thiel deshalb aktuell für "berechtigt", doppelt geimpfte Genese mit Geboosterten gleichzusetzen.
"Gleichbedeutend mit Boosterung"
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Dass eine Infektion nach doppelter Impfung zumindest für einen gewissen Zeitraum den gleichen Schutz bietet wie eine Booster-Spritze, sieht auch Epidemiologe Timo Ulrichs so. "Das ist gleichbedeutend mit einer Boosterung. Das Immunsystem hat dann nochmal diesen Reiz bekommen, ist dann gut aufgestellt und abwehrbereit."
Allerdings sei eine zusätzliche Boosterimpfung "durchaus denkbar, um auf der sicheren Seite zu sein", empfiehlt Ulrichs. "Man sollte den zeitlichen Abstand aber so groß wählen, dass es für das Immunsystem wirklich ein weiterer Reiz ist. Vier bis acht Wochen warten, das ist vollkommen in Ordnung."
Die entscheidende Frage ist aber eine andere, findet Immunologe Thiel. Für wie lange ist diese Gleichsetzung gerechtfertigt? Und das sei derzeit "unmöglich festzustellen". Es fehlen belastbare Daten. "Problem ist dabei natürlich, dass die Erkrankungen immer unterschiedlich verlaufen. Und die Krankheitsverläufe unter dem Mantel 'mild' sind einfach zu unterschiedlich. Das heißt, man versteht auch nicht vollkommen, ob ein ganz asymptomatischer Verlauf denn zu einer gleich starken Aktivierung des Immunsystems führt wie ein etwas stärkerer Verlauf."
Thiel sieht angesichts dieser Unklarheiten die von vielen Bundesländern angewandte Drei-Monats-Marke als sinnvoll an. Das sei "näherungsweise ein Wert, den man nutzen kann. Man sollte ihn aber in allen Bundesländern anwenden. Das wäre eine Aufgabe der Gesundheitsminister", fordert der Immunologe im Podcast.
Booster wird auch für Genesene wichtig
Allgemein ist der Booster wichtig, da sind sich Experten einig. Es gebe viele Impfungen, die erst nach dem dritten Mal ihre volle Wirkung entfalten, sagt Thiel. Ein Beispiel sei die Impfung gegen Kinderlähmung (Polio) oder auch die Tetanus-Impfung. "Bei Erwachsenen ist Hepatitis B ein Beispiel. Das ist ein Proteinimpfstoff, der wird dreimal verimpft. Und erst nach der dritten Impfung hat man relativ stabile Antikörper-Titer."
Auch gegen die Omikron-Variante bietet der Booster zumindest für die erste Zeit nach der Impfung einen guten Schutz. Das unterstrichen Anfang des Jahres Studiendaten aus Dänemark. Vor schwerer Erkrankung schützt dagegen auch die Grundimmunisierung noch gut. Laut einem Bericht der britischen Gesundheitsbehörde UKHSA sind doppelt Geimpfte auch sechs Monate nach der zweiten Spritze noch zu 72 Prozent vor einem Krankenhausaufenthalt geschützt, der Booster steigert diesen Schutz nochmal.
Kurz nach einer Infektion sind Genesene mit zwei Impfungen in der Regel genauso wenig ansteckend wie Geboosterte, sagen Wissenschaftler wie Andreas Thiel und Timo Ulrichs. Aber früher oder später kommen auch geimpfte Genesene nicht mehr am Booster vorbei. Noch regiert in Deutschland aber ein Booster-Regel-Chaos.
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Quelle: ntv.de