Sexueller Missbrauch an Schulen"Die Taten geschahen selten überfallartig"
Von Hubertus Volmer
Viele Betroffene von sexuellem Missbrauch an Schulen stoßen auf eine Mauer des Schweigens - das dürfte sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht geändert haben. Geändert hat sich das Vorgehen der Täter.
Schulen sind weiterhin ein Tatort von sexuellem Missbrauch. Allerdings hat sich das Täterprofil seit den 1970er Jahren stark verändert. Die Aufarbeitung auch an staatlichen Schulen ist völlig unzureichend.
Das sind drei Erkenntnisse aus einer Studie über sexuelle Gewalt an Schulen, die von der Unabhängigen Kommission des Bundes zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs vorgelegt wurde. Bei der Vorstellung der Studie erinnerte die Kommissionsvorsitzende Julia Gebrande daran, dass es vor fünfzehn Jahren private und kirchliche Schulen waren, an denen Betroffene das Thema öffentlich machten: das Canisius-Kolleg in Berlin, die Odenwaldschule in Hessen und das bayerische Benediktinergymnasium Ettal.
Nur wenige Schulen in staatlicher Trägerschaft seien diesem Beispiel gefolgt, sagte Gebrande - zwei, mehr waren es nicht. Das Versäumnis ist umso gravierender, weil es bei der Aufarbeitung nicht allein um Anerkennung der Betroffenen geht, die zum Teil ihr Leben lang unter den Folgen des Missbrauchs leiden. Seit den 1980er Jahren sei bekannt, wie Prävention gestaltet werden könne, sagte die Autorin der Studie, die Bildungsforscherin Edith Glaser, "aber es wird nicht proaktiv gehandelt".
Ohne Aufarbeitung könne es auch keinen Schutz heutiger Schülerinnen und Schüler geben: "Die individuelle, institutionelle und gesellschaftliche Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch ist notwendig, um das Leid der Betroffenen und das Unrecht anzuerkennen", so Gebrande. "Wenn wir die Strukturen verstehen, die Missbrauch begünstigen, dann können wir das System Schule weiterentwickeln und Kinder und Jugendliche zukünftig besser schützen."
"Verschleiert, vertuscht, geschwiegen"
Die Kommission macht einige Vorschläge, was strukturell verbessert werden kann, um sexuellen Missbrauch zu verhindern oder wenigstens zu erschweren. Wichtig seien etwa unabhängige Beschwerdestellen wie etwa Schulsozialarbeiterinnen, auch klare Zuständigkeiten in Schulen und Schulaufsichtsbehörden. Letztere seien bei dem Thema noch immer eine "Black Box", betonte Bildungsforscherin Glaser. Soll heißen: Zuständigkeiten und Qualifikationen sind häufig unklar oder nicht vorhanden.
Am Ende funktioniert die Prävention allerdings nur, wenn auch jemand da ist, der hinsieht, zuhört und aktiv wird: "Ich würde mir wünschen, dass an allen Schulen über dieses Thema gesprochen wird", so Gebrande.
Auch bei der Sensibilisierung von Lehrkräften gibt es offenbar weiterhin Nachholbedarf. Knapp 70 Prozent der 133 Betroffenen, deren Berichte für die Studie ausgewertet wurden, hätten vermutet, dass andere Personen in der Schule von den sexuellen Übergriffen Kenntnis gehabt hätten, heißt es in der Untersuchung. "Im Kollegium, so berichten Betroffene und befragte Lehrkräfte, wussten viele von den Taten." Dennoch sei "verschleiert, vertuscht, geschwiegen" worden. Die Berichte stammen aus den Jahren 1949 bis 2010. Gebrande und Glaser machten allerdings deutlich, dass sie nicht davon ausgehen, dass sich dies geändert hat. In der Studie ist von "Schweigekartellen" die Rede.
Beziehungen zwischen Lehrer und Schülerin sind niemals legal
Was sich verändert, sind die Strategien der Täter. Bis Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre seien die Täter vor allem autoritäre Typen gewesen. In der Studie wird eine Frau mit dem Satz zitiert, ihr sei gesagt worden, sie solle "nicht solche Märchen erzählen, das könne den Lehrer in Teufels Küche bringen".
In späteren Jahrzehnten gebe es eine auffällige Häufung von "vermeintlich romantischen Beziehungen zwischen Lehrer und Schüler bzw. Schülerin". Diese Täter treten nicht autoritär auf, sondern werden eher als charismatisch oder als Kumpel wahrgenommen. Und: "Die Taten geschahen selten überfallartig. Sie wurden meist über einen längeren Zeitraum angebahnt", so die Studie. "Die Täter und die wenigen Täterinnen nutzten Krisenzeiten im Leben Betroffener aus."
In den Kollegien steige mitunter die Bereitschaft, solche vermeintlich romantischen Beziehungen zu akzeptieren, je älter die Betroffenen seien. Dabei seien solche Beziehungen niemals legal, betont Glaser. Schließlich stehen auch volljährige Schülerinnen in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Lehrkraft. Dies gilt auch dann, wenn die Betroffenen zum Zeitpunkt der Tat noch gar nicht verstehen, dass sie Missbrauchsopfer sind. Es könne Jahre dauern, bis diese Art von Missbrauch von den Betroffenen als sexueller Missbrauch erkannt werde, so Gebrande. Sexueller Missbrauch ist es dennoch.