Wie Israelis den Angriff erleben "Sie haben uns abgeschlachtet, uns hingerichtet"
10.10.2023, 15:45 Uhr Artikel anhören
Die Hamas-Angreifer hinterlassen Tod und Zerstörung in den Kibbuzim nahe dem Gazastreifen.
(Foto: REUTERS)
Sirenen, Schüsse, Schreie: Am frühen Samstagmorgen überfallen Hamas-Kämpfer mehrere Kibbuzim nahe dem Gazastreifen. Sie morden, verschleppen und brandschatzen. Der Schock über das Massaker sitzt bei den Überlebenden tief - aber auch die Wut auf die israelische Armee.
In Nahal Oz, einem Kibbuz im Süden Israels, leben rund 400 Menschen nah am Gazastreifen. So nah, dass man vom Fenster aus sehen kann, wenn die palästinensischen Nachbarn ihre Wäsche im Garten aufhängen. Das ist gleichzeitig auch der einzige Kontakt. Denn zwischen den beiden Orte stehen hochmoderne Zäune - zum Schutz der israelischen Seite. "Diese Zäune, die meterweit unter die Erde reichen und Millionen gekostet haben, haben nichts genützt", sagt Kibbuz-Bewohner Eli Dudaei nach dem verheerenden Hamas-Angriff dem britischen "Guardian".
Am frühen Samstagmorgen dringen radikalislamische Terroristen überraschend in Nahal Oz ein. Das Heulen der Sirenen in dem kleinen Örtchen wird durchbrochen von Gewehrschüssen und Explosionen. Dudaei kann sich mit seinem Partner Nadav Peretz und ihrem Hund in einen Bunker retten. Eigentlich Routine für das Paar, erzählen sie der Zeitung. In der Gegend käme es öfter zu Luftalarm, dieser würde jedoch meist nur wenige Minuten andauern. "Doch diesmal verging die Zeit und nichts geschah. Irgendwann realisierten wir, dass das Militär nicht kommt, um uns zu helfen", sagt Dudaei.
Während Dudaei und Peretz in Todesangst im Bunker ausharren, verwüsten Dutzende Hamas-Kämpfer den Kibbuz. Sie brechen in Häuser ein oder zünden sie an. Menschen auf der Straße erschießen sie einfach. Panische Nachrichten fluten die Nahal-Oz-Whatsapp-Gruppe: "Sie sind in meinem Haus", "Bitte rettet uns" oder "Sie töten uns". Einige Nachbarn hätten sich sogar verabschiedet. "Als wir die Männer im Garten hörten, schickte auch ich Nachrichten an meine Mutter, in denen ich ihr sagte, dass ich sie liebe", sagt Peretz dem "Guardian".
"Die Armee hat meine Freunde einfach sterben lassen"
Solche grauenvollen Szenen spielen sich am Wochenende an vielen Orten in Israel ab, als die islamistische Palästinenserorganisation Israel mit Tausenden Raketen angreift. Hunderte Kämpfer dringen in den Süden des Landes ein und entführen und töten Zivilisten und Soldaten. Im Kibbuz Be'eri, nur etwa sieben Kilometer von Nahal Oz entfernt, filmen sich die Hamas-Angreifer, wie sie brandschatzen, verschleppen und wahllos morden. Wer vor die Tür tritt, ist sofort tot.
Auch in Be'eri erleben die Menschen das Massaker in Bunkern und unter Dauerfeuer mit. Und auch hier sitzt bei den Überlebenden nicht nur der Schock tief, sondern auch die Enttäuschung über das israelische Militär. "Die Armee hat meine Freunde einfach sterben lassen", sagt eine ältere Bewohnerin im ZDF, die Wut in ihrer Stimme ist deutlich zu hören.
"Sie [die Hamas] haben uns abgeschlachtet, uns hingerichtet", sagt Amit Argentero Dagan, eine weitere Bewohnerin von Be'eri. "Es waren so viele, mit so schweren Waffen." Mit ihrer Familie habe sie im Bunker in der Falle gesessen, stundenlang. Irgendwann wurden sie unter Beschuss befreit und an einen sicheren Ort weit weg von den Angriffen gebracht. "Wir mussten unseren Kindern die Augen zuhalten, weil wir über tote Menschen steigen mussten", erzählt ein Vater.
Ganze Familien wurden ausgelöscht
Die Überlebenden versuchen, das Grauen zu verarbeiten und nach vorn zu blicken. "Wir müssen überlegen, wie wir die Toten begraben", sagt Lotan Finia aus Be'eri dem ZDF. "Wir haben Eltern, die ihre Kinder verloren haben. Wir haben Kinder, die keine Eltern mehr haben." Ganze Familien seien durch die Hamas ausgelöscht worden.
Rettungskräfte haben inzwischen 108 Leichen im Kibbuz Be'eri geborgen. Damit hat die Hamas zehn Prozent der gesamten Bevölkerung des Ortes an einem einzigen Tag ausgelöscht. Bis in den Montag kämpfte die israelische Armee nach eigenen Angaben die 70 Angreifer zurück, die in den Kibbuz eingedrungen waren. Der Vorsitzende des Gemeinschaftstrats von Be'eri ist überzeugt: Die Hilfe kam viel zu spät. Er fühlt sich von der israelischen Regierung im Stich gelassen, die Gewissheit von der Sicherheit der Israelis ist mit den Bewohnern seines Kibbuz gestorben. "Es fühlt sich an, als gäbe es keinen Staat. Wo bin ich, in einem Pogrom in Litauen?", sagt er dem israelischen Nachrichtensender "Haaretz".
"In uns allen ist etwas zerbrochen und ich weiß nicht, wie wir uns davon erholen sollen", sagt auch Finia dem ZDF. Für viele Bewohner von Be'eri stehe fest: Der Kibbuz kann nie wieder ein Zuhause für sie sein. Auch Dudaei und Peretz aus Nahal Oz sehen in eine ungewisse Zukunft. "Wir wissen nicht, was als Nächstes passieren wird", sagt Peretz dem "Guardian". Ihren Kibbuz wollen sie aber nicht aufgeben. "Im Gazastreifen leiden die Menschen jetzt genauso wie in Israel. Wir müssen unser Leben wieder aufbauen, unsere Gemeinschaft wieder aufbauen - zurück in unseren Kibbuz gehen."
Quelle: ntv.de