
Julia Ruhs moderiert künftig nicht mehr beim NDR, aber immer noch beim BR.
(Foto: dpa)
Wer die Verlautbarungen des NDR zum Rauswurf von Julia Ruhs liest und hört, muss zu dem Schluss kommen: Alle, die von Cancel Culture reden, auch Ruhs selbst, haben eine Wahrnehmungsstörung. Den Durchblick haben nur die Hellbürger in Helldeutschland. So einfach ist es aber nicht.
Sehr geehrte Damen und Herren und all jene, die noch nach ihrer wahren Bestimmung und Identität suchen, ich heiße Sie willkommen in der Schmoll-Ecke, dem Tummelplatz für Kulturkämpfer und Freunde des ideologischen Schattenboxens. Seit meiner Kolumne vor zwei Wochen weiß ich, dass der Trend zur Pathologisierung - "du scheinst Dich leider immer mehr zu radikalisieren und zum Hass-Prediger zu entwickeln" - genauso wie der zur Übergriffigkeit unaufhaltsam voranschreitet.
Ich stelle seit zwei, drei Jahren fest, dass die Aggression in Helldeutschland genauso groß ist wie die in Dunkeldeutschland - und beide Seiten rechtfertigen ihre verbalen Geschosse als Verteidigung der Demokratie. Offenheit und Großmut verschwinden hingegen mit beachtlicher Rasanz.
Natürlich nicht im Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk, dem letzten Hort absoluter Ausgewogenheit und größtmöglicher Toleranz. Er ist ein besonders leuchtender Fleck in Helldeutschland. Es muss so sein, weil - es folgt meine ganz persönliche Schätzung - die Redakteure zu 93,3 Prozent Grüne, SPD und Linke wählen. Der Rausschmiss von Julia Ruhs als Moderation beim NDR war deshalb auch gar keiner, das würden die Toleranten beim NDR aus Gründen der Ausgewogenheit nie übers Herz bringen. Intendant Hendrik Lünenborg erklärte der Deutschen Presseagentur: "Niemand muss auf Julia Ruhs verzichten, denn die weiteren 'Klar'-Folgen laufen auch auf den Plattformen und sind damit für Norddeutsche auch zu sehen." Von wegen Cancel Culture!
Schwierigkeiten mit dem Durchblick
"Es ist niemand gecancelt worden", verkündete der Hüter der Ausgewogenheit. Das heißt: Alle, die von Cancel Culture reden, auch Ruhs selbst, haben eine Wahrnehmungsstörung, leben in einer Parallelwelt, vermutlich in Dunkeldeutschland. Den Durchblick haben nur die Hellbürger. "Die Entscheidung, jetzt mit einer weiteren Moderatorin in die nächsten Folgen zu gehen, haben die Programmverantwortlichen getroffen. Es gab in der Tat eine ziemlich breite interne Debatte und es gab auch heftige Kritik. Das ist auch ein normaler Vorgang, weil in Redaktionen diskutiert werden muss. Mir ist nur wichtig, dass diese Diskussionen im Inneren geführt werden und auch auf eine faire und kollegiale Art und Weise."
Fair und kollegial. Dafür ist Helldeutschland weit über seine Grenzen bekannt. Nur wie kommt es, dass sich Ruhs darüber beklagt, dass "niemand mit mir gesprochen hat", auch kein einziger der 250 freien und fest angestellten NDR-Mitarbeiter, die schon im Frühjahr den "internen" Protestbrief gegen sie geschrieben hatten. Wie "fair und kollegial" es zuging, zeigt auch, dass schon einen Tag nach Verkündung des Rauswurfs mit Tanit Koch eine Nachfolgerin präsentiert worden war. Unvorstellbar, dass NDR-Verantwortliche Koch am Morgen nach dem Abgang von Ruhs angerufen haben und fragten: "Frau Koch, wir haben ein Problem. Können Sie die Sendung 'Klar' übernehmen?" So etwas dauert Tage und Wochen. Die wussten also, dass sie Ruhs rausschmeißen werden, ehe sie selbst es wusste. Das ist also beim NDR ein "normaler Vorgang", durchgeführt auf "faire und kollegiale Art und Weise".
Begleitet und befeuert wird das alles vom Vorwurf der Selbstinszenierung gegen die 31-Jährige, sie wolle sich als eigene Marke profilieren - genau das, was Frauen doch machen sollen, weil es Männer seit Jahrhunderten tun. Bei Ruhs ist das jetzt auch wieder nicht recht und wird ihr sogar negativ ausgelegt. Zweierlei Maß sind zur Normalität in unserer Welt der Parallelwelten geworden. Ebenso ist es mit der Anschuldigung, handwerklich schlecht gearbeitet zu haben. Damit niemand auf die Idee kommt, es handele sich um Cancel Culture, wird im NDR betont: Nicht die politische Ausrichtung von Ruhs war der Grund ihres Rauswurfs, sondern weil sie das journalistische Handwerk nicht beherrsche.
Weiterentwicklung, auch für die Amygdala
Aber nun kommt ja Tanit Koch. "Jetzt ist eine Weiterentwicklung des Formats möglich mit einer profilierten Journalistin", frohlockt der NDR-Intendant. Koch war bei "Bild" Chefredakteurin, einer Zeitung, die - hier ist vermutlich aus Sicht des NDR der große Unterschied zu der BR-Moderatorin zu finden - berühmt ist für handwerklich sauberen Qualitätsjournalismus. 35 Rügen hat "Bild" 2024 vom Deutschen Presserat erhalten - mehr als jemals zuvor binnen eines einzigen Jahres. Aber das war ja nach dem Abgang von Koch, deren Verweildauer in ein und demselben Job übrigens bisher nie besonders lang war.
Wenn das journalistisch so hundsmiserabel war, was Ruhs bei "Klar" gemacht hat: Warum sind dann die drei Folgen mit ihr als Moderatorin noch in der ARD-Mediathek? Aus Gründen der Toleranz und Ausgewogenheit? Gelöscht hingegen worden ist das Video eines freien NDR-Mitarbeiters, der ganz vorn dabei war, Ruhs abzusägen, der den Brief gegen sie unterschrieben und vermutlich auch mitinitiiert hat.
Es handelte sich um einen irren Erklärungsversuch für "Zapp", das eigentlich sehr gescheite Medienmagazin, warum rechts tickende Menschen, die "Bild" und "Nius" konsumieren, nicht davon ablassen können. Er berief sich auf niederländische "Forschende". Die hätten herausgefunden, dass "die Amygdala, also der Teil des Gehirns, der für Angst und Risikobewertung zuständig ist", bei Rechten "ein bisschen größer ist als bei progressiv-liberal denkenden Menschen".
Die Forschung dazu stehe noch am Anfang, hieß es. "Aber wenn wir mal davon ausgehen, dass rechts denkende Menschen eher ängstlich und vorsichtig sind, dann macht das total Sinn, dass die so allergisch auf Fakten reagieren, vor allem wenn man versucht, ihnen zu beweisen, dass ihre Angst unbegründet ist." Dann haben wir also endlich die Erklärung dafür gefunden, warum immer mehr Menschen die Alternative für Durchgeknallte wählen (wollen). Bei denen verschiebt sich gerade was im Gehirn. "Hinzu kommt dann halt noch, dass diese Menschen häufiger einen niedrigeren Bildungsabschluss haben. Die haben dann teilweise einfach nicht gelernt, mit abstrakten Zahlen und Daten umzugehen oder bei komplexen Fragen zu differenzieren." Soso.
Da fallen mir doch ganz klar (hahaha) all die progressiven Genies in der Politik ein. Schon das hätte zu denken geben können. Der NDR-Kollege gestand - Respekt dafür! - bald den Fehler ein und entschuldigte sich für den Quatsch. Zum Löschen des Videos sagte er im Juli - ungefähr drei Monate nach dem "internen" Brief gegen Ruhs - auf Instagram: "Wir halten es bei 'Zapp' grundsätzlich für falsch, mit dem Finger auf andere zu zeigen und zu sagen: 'Bäh, ihr seid doof und wir sind die Guten.' Denn diese Lagerbildung, die wir gerade in dieser Gesellschaft beobachten, das ist ja genau das Problem, was wir haben und das wir eigentlich bekämpfen wollen." Wow. Der Mann lebt wirklich in einer Parallelwelt.
P.S. Ich sag es hier einmal ausdrücklich: Ich habe nichts gegen die NDR-Leute und nichts gegen Linke und schon gar nichts gegen den ÖRR. Ich zahle meine Gebühren gern, obwohl ich so gut wie nie TV schaue und die Kürzungen bei Kultursendungen übel finde. Aber auf diese Verlogenheit habe ich keine Lust - auch nicht, verarscht zu werden und mir erklären zu lassen, dass eine gecancelte Kollegin nicht gecancelt worden sei.
Quelle: ntv.de