Dem toten Hasen Bilder erklären Verstören, berühren, provozieren: Die Abramović-Methode


Die junge Künstlerin (l.) trifft auf den "mysteriösen Joseph Beuys" - hier in Belgrad 1974 mit Kulturzentrumsleiterin Dunja Blazević.
(Foto: Nebojša Čanković © Courtesy of the Marina Abramović Archives)
Die brachialen, körperlichen Performances von Marina Abramović überschreiten Grenzen. Weltweit lockt die Legende damit - schon lange - ihr Publikum an, derzeit ins niederrheinische Schloss Moyland. Dort trifft die Abramović-Methode auf eine andere Ikone: Joseph Beuys.
"Marina Abramović" - und sofort hat man Bilder im Kopf. Mit radikalen und vieldiskutierten Happenings bringt sie den eigenen Körper und Geist ins Wanken. Ohne Wenn und Aber setzt sie sich in ihren Langzeitperformances Schmerz, Erschöpfung und Gefahr aus. Die Künstlerin ist nackt, verteilt Ohrfeigen, schrubbt blutverschmierte Knochen. Oder sie sitzt stundenlang auf einem kargen Holzstuhl, ohne zu essen, zu trinken oder auf die Toilette zu gehen.
Hören und Spüren bis zum Umfallen - seit den Siebzigerjahren prägt sie die Performancewelt wie keine andere. Thematisiert persönliche und kollektive Traumata, kreist um Zeit und Rituale. Wer die intellektuelle Spannkraft zwischen unbändigem Willen und Loslassen live erleben durfte, vergisst sie nie. Derzeit lässt sich im Museum Schloss Moyland in der Ausstellung "Marina Abramović & MAI im Dialog mit Joseph Beuys" erfahren, was Performance heute mit ihren Erkenntnissen über Selbstbeherrschung sowie Konzentration erreichen kann.

Die Performance-Ikone lebt in New York, performt aber nicht mehr, sondern arbeitet an ihrem Vermächtnis.
(Foto: Dusan Reljin)
In Sachen Performance ist Marina Abramović so etwas wie das Gedächtnis dieser Kunstgattung. Seit über fünf Jahrzehnten ist sie ein essenzieller Teil davon. 2012 gründet sie nach ihrer drei Monate dauernden Performance "the artist is present" im New Yorker Museum of Modern Art das Marina Abramović Institute (MAI). Nachdem sie siebenhundertfünfzig Stunden stillgesessen und 1565 Fremden in die Augen gesehen hatte, sei ihr klar geworden, "dass Museumsbesucher ihre eigenen Erfahrungen machen und nicht nur ein Werk betrachten wollen", sagt sie im Gespräch mit Antje-Britt Mählmann, der Direktorin des Museums Schloss Moyland.
Nackt war gestern
Es sei an der Zeit gewesen, die Abramović -Methode zu lehren, so die Legende weiter. Es gehe darum, Performancekunst als Sprache zu verstehen. Marina Abramović könnte sich kein besseres Vermächtnis schaffen - ihre Methode ist für jeden gedacht. Man lernt beispielsweise zu meditieren, zu atmen oder Augenkontakt zu halten. Selbst Lady Gaga hat einen Workshop absolviert. Seither kursiert im Internet ein Video, in dem sie unbekleidet über eine Wiese spaziert. Das MAI selbst ist nomadisch, hat keinen festen Ort und unterstützt Performance-Kunst weltweit. Im Schloss Moyland hat das MAI erstmals eine sogenannte "residency" durchgeführt, auf deren Basis neue ortsspezifische Arbeiten entstanden.

Voller Körpereinsatz im Stil von Marina Abramović: Performerin Michelle Samba bei einer Aktion im holländischen Fries Museum.
(Foto: Aron Weidenaar)
Nacktheit ist vorbei. Die aus Belgrad stammende Grenzgängerin gibt via MAI ihr Wissen weiter: "Inzwischen performe ich selbst nicht mehr, aber ich organisiere", erzählt sie lächelnd. Sie inszeniert Opern, verspricht sogar ein anderes Hörerlebnis. Im Juli ist sie mit dem japanischen Praemium Imperiale, dem "Nobelpreis der Künste", ausgezeichnet worden.
Für Marina Abramović muss man reisen. Und das tun Fans und Neugierige gerne, zum Beispiel nach Bedburg-Hau, unweit der niederländischen Grenze. Was für ein herrlicher Ort ist dieses Schloss Moyland, das inmitten eines Parks voller Skulpturen und schönster Hortensien liegt. Hinter der neogotischen Backsteinfassade des Wasserschlosses aus dem 19. Jahrhundert ist das weltweit größte Beuys-Archiv zu Hause. Teile des knapp 6000 Werke umfassenden Konvoluts treten im Museum mit zeitgenössischen Positionen in den Dialog.

Idylle pur: Das Kutschenrondell begrüßt die Wasserschloss-Besucher.
(Foto: Stiftung Museum Schloss Moyland/Maurice Dorren)
Beuys reloaded
Ein Paradebeispiel ist die derzeitige Schau. Beuys-Archivmaterialien verschmelzen mit aktuellen Performance-Arbeiten im Stil des MAI. 13 internationale Künstlerinnen und Künstler wurden von dem Kuratorenteam Antje-Britt Mählmann, Serge le Borgne und Billy Zhao ausgewählt. Im März haben sie auf Schloss Moyland über den Künstler geforscht und die Grundlagen für ihre Auftritte gesucht. So aktivieren sie Beuys'sche Werke, verknüpfen diese mit ihren kräftezehrenden Aufführungen, kurbeln Gedanken an. Sie schaffen einen überraschenden Dialog mit Beuys und zugleich eine Symbiose mit Abramović. Und sie zeigen, dass die künstlerischen Ideen von Marina und Joseph weiterleben.
Beuys ist bis heute eine prägende und polarisierende Figur in der Kunstwelt. 1921 in Krefeld geboren, beginnt er nach der Kriegsrückkehr in den späten 1940er Jahren mit seiner Arbeit als Künstler. Er zeichnet, erschafft Skulpturen und erhitzt ab den 60er Jahren mit Aktionskunst die Gemüter. Dafür setzt er auch den eigenen Körper ein, ebnet den Weg für Künstlerinnen wie Abramović. Bis zu seinem Tod 1986 verbindet er seine Werke mit Natur, Spiritualität und Heilung. So ließ er in Kassel 7000 Eichen pflanzen, um das ökologische Bewusstsein zu fördern und den Stadtraum nachhaltig zu verändern.
Diese Idee der viel beachteten "sozialen Plastik" adaptiert Marina Abramović von Beuys. Und macht das Publikum zu Mitgestaltenden, wie in der bereits erwähnten "the artist is present"-Performance. Das eher sperrige Feld der Performance, weil flüchtig, hat sie spätestens damit international populär gemacht. Für Abramović wie für Beuys ist Kunst eine Art Labor, das ein gemeinsames Bewusstsein stärkt und Schranken zwischen Kunst und Leben aufhebt.
Tote Hasen-Happening
Die beiden treffen wiederholt aufeinander. Erstmals beim Edinburgh Festival 1973, wo Beuys die junge Abramović erlebt. Für sie ist er vor allem "eine mysteriöse Figur im langen Mantel und mit dem legendären Hut", erinnert sich Abramović im Gespräch mit Mählmann. 1974 begegnen die beiden sich im kommunistischen Belgrad erneut. Am dortigen Kulturzentrum hält er über Kunst und Demokratie einen sechsstündigen Vortrag, der zur Performance wird. Vor den Augen aller entsteht ein Kunstwerk, denn er hält auf sechs Schultafeln seine Gedanken mit Kreide fest. Reden, Denken, Lehren sind Teil seiner künstlerischen Praxis.

Marina Abramović "erklärt dem toten Hasen die Kunst". So wie Joseph Beuys 40 Jahre zuvor.
(Foto: Video still: Babette Mangolte © Courtesy of the Marina Abramović Archives)
Kann eine Performance den Augenblick überdauern? Marina Abramović reinterpretiert vierzig Jahre nach Beuys dessen Performance "Wie man einem toten Hasen die Bilder erklärt" von 1965 im New Yorker Guggenheim Museum. Der Titel ist übrigens auch der Inhalt. Diese Aufführung sei eine ihrer Favoriten, verrät sie Antje-Britt Mählmann. Wie eine Archäologin habe sie das Werk auseinandergenommen und neu zusammengesetzt. Beide Inszenierungen sind jetzt im Museum Schloss Moyland mittels Projektionen zu sehen. Dazu gesellen sich Filmstills, Zeichnungen, ein Interview mit Marina Abramović und die Ergebnisse der MAI-Residency.
Und wie kam es zu der Idee, MAI einzuladen? "Wir hatten den Impuls, unsere Beuys-Sammlung im Kontext mit Performancekunst auszustellen", erzählt Antje-Britt Mählmann ntv.de. "Wir verwahren Objekte, die Beuys in Aktionen verwendet oder produziert hat. Später hat er diese Relikte musealisiert. Mir ist wichtig, Beuys als einen Wegbereiter der Performancekunst, ab den 70er Jahren bis heute, herauszuarbeiten." Im Frühjahr 2023 überlegten sie und ihre Kuratoren bei einem ersten Treffen mit Marina Abramović und dem Team des MAI in Amsterdam, wie dieser Plan realisiert werden kann. Das Ergebnis ist den Besuch wert.
Sie wollen mehr über die radikale Kunst der Grande Dame der Performance erfahren? Merken Sie sich bitte den 10. Oktober vor. In der Wiener Albertina Modern startet dann die Retrospektive "Marina Abramović".
Marina Abramović & MAI im Dialog mit Joseph Beuys, bis 26. Oktober, Stiftung Museum Schloss Moyland, Am Schloss 4, 47551 Bedburg-Hau
Quelle: ntv.de