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Vergleich und Verlustgefühle Verzicht eröffnet die Möglichkeit von Freiheit

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Verzicht, das klingt für viele nach Wasser und Brot, nach Leiden und Darben.

Verzicht, das klingt für viele nach Wasser und Brot, nach Leiden und Darben.

(Foto: imago stock&people)

Dry January ohne Alkohol, Veganuary ohne Fleisch - das klingt für viele irgendwie nach schlechten Zeiten. Denn der Verzicht hat ein schlechtes Image. Doch warum ist das so? Und lohnt es sich trotzdem?

Viele Menschen starten in das Jahr 2025 mit hehren Plänen. Sie wollen im Dry January auf Alkohol verzichten, im Veganuary vielleicht auch noch auf Fleisch und vor allem einige schlechte Angewohnheiten hinter sich lassen. Doch was als freiwilliger Kurswechsel gedacht ist, erweist sich häufig als unerwartet schwierig, teilweise so sehr, dass viele schon nach wenigen Tagen aufgeben und wieder in alte Muster zurückfallen.

Für den Psychiater und Psychotherapeuten Christian Firus ist das leicht zu erklären. "Unser Gehirn reagiert auf Verluste deutlich stärker als auf Zugewinn", sagt er ntv.de. "Deswegen ist es so, dass das Thema Verzicht sehr mit Verlust verbunden und in aller Regel negativ besetzt ist."

Dabei liegen die Vorteile auf den ersten Blick klar auf der Hand. Wer beispielsweise für eine bestimmte Zeit keinen Alkohol mehr trinkt, kann sie am eigenen Leib erleben. Diese Erfahrungen sind häufig augenöffnend, wie die Erfahrungsberichte von Mia Gatow ("Rausch und Klarheit"), Felix Hutt ("Ein Mann. Ein Jahr. Kein Alkohol") und zuletzt auch von Bas Kast ("Warum ich keinen Alkohol mehr trinke") zeigen. Die Autorinnen und Autoren berichten von besserem Schlaf, gesünderer Haut, niedrigerem Blutdruck, stärkerem Immunsystem, mehr Fitness, gesteigerter Libido und Potenz und besserer seelischer Gesundheit.

Selbstoptimierung ist keine gute Motivation

Trotzdem ist es alles andere als leicht, sich für den Verzicht zu entscheiden. Das liegt Firus zufolge daran, dass es eigentlich um eine komplexere Herausforderung geht als darum, das Bier, das Glas Wein oder die Currywurst stehenzulassen. "Es geht um die Frage: Was macht uns wirklich zufrieden?" Der Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie stellt in seiner Arbeit mit Patientinnen und Patienten immer wieder fest, dass die reine Selbstoptimierung Menschen nicht zufrieden macht. Deshalb reiche dies nicht als Motivation aus.

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Firus hat 2023 ein Buch mit dem Titel "Was wir gewinnen, wenn wir verzichten" veröffentlicht. Seine Erfahrung ist, dass viele Menschen in einer "Selbstoptimierungsmaschinerie" gefangen sind. "Der jungen Generation passiert es noch mehr, dass das permanente Vergleichen durch die Social-Media-Kanäle einen enormen Druck erzeugt." Dieses ständige Vergleichen sorge für extrem viel Stress. "Wenn wir darauf verzichten, dann ist das ein erheblicher Zugewinn an Gesundheit, mental und körperlich."

Dafür müsse man aber lernen, Nein zu sagen. Und das fällt vielen schwer, weil sie befürchten, dann nicht mehr dazuzugehören. "Das erfordert Mut, Entschlossenheit und Durchhaltevermögen." Vor allem aber müsse man sich klarmachen, dass das menschliche Gehirn stark auf die kurzfristige Bedürfnisbefriedigung aus ist. Das Stück Kuchen jetzt sofort löst mehr Wohlgefühl aus als die Aussicht auf langfristige körperliche Gesundheit, wenn man regelmäßig etwas für seine Fitness und Beweglichkeit tut. "Ich brauche sozusagen eine Toleranz gegenüber dem vermeintlichen Glück jetzt und bekomme dafür mehr Zufriedenheit morgen und übermorgen."

Das wissen die Menschen schon lange, deshalb gibt es so etwas wie Fastenzeiten, in denen man gemeinsam verzichtet. So lassen sich Verzichtserfahrungen machen, während man die Unterstützung von anderen bekommt.

Weniger ist mehr

Für Firus gibt es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Verzicht und Resilienz. "Das ist ein ganz wesentlicher Schutzfaktor vor den Widrigkeiten, die uns alle betreffen. Wir können den Herausforderungen im Leben nicht ausweichen, sondern es kommt darauf an, wie wir ihnen begegnen." Wer darin geübt ist, nicht alles sofort oder manches auch gar nicht zu bekommen, hat eine bessere Frustrationstoleranz und letztlich mehr seelische Widerstandskraft, ist der Facharzt überzeugt. Manchmal reiche es schon, von einer Anspruchshaltung zurückzutreten, zum Beispiel der, dass man auf dem Arbeitsweg eine grüne Welle haben oder es immer Fleisch geben muss.

Trotzdem habe das Weniger in einer Immer-mehr-Gesellschaft ein extrem schlechtes Image. Jeder Werbespot verspreche mehr Glück durch mehr Konsum. Man müsse schon mit einer anderen Sichtweise herangehen, um diese Erzählungen zu entkräften, obwohl Genügsamkeit schon seit dem Philosophen Aristoteles als ein Schlüssel zum Glück angesehen wird. "Genauso wie Fürsorge, Heiterkeit, Zufriedenheit und Dankbarkeit gibt es viele positive Gefühle, die man lange Zeit in der Psychologie überhaupt nicht beforscht hat und wo man jetzt ganz klar sagt, das verändert unser Fühlen, Denken und Handeln, und zwar sehr deutlich zum Positiven."

Auf der anderen Seite stehe beispielsweise der Burn-out als eine Zuviel-Krankheit. Das betreffe auch nicht nur die Arbeitswelt, sondern zunehmend die Freizeit der Menschen. "Dieser Dauerstress führt bis in die Zellen hinein zu Veränderungen beispielsweise im Entzündungsstoffwechsel. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit für Autoimmunerkrankungen, Krebs, Demenz, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und natürlich für psychische Erkrankungen."

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Für Firus sind das gute Gründe, das Verzichten zu üben und auf diese Weise auch zumindest zeitweise aus den Stressschleifen auszusteigen. Alkohol und Fleisch können ein Anfang sein, aber auch die Entscheidung, ab 21 Uhr keine E-Mails mehr zu checken. Der Psychologe versteht das als eine Übung darin, "sich selbst und anderen" Grenzen zu setzen.

Vermutlich reicht der Januar bei den wenigsten Menschen für all diese Effekte. Denn Menschen brauchen dreimal so viele positive Gefühle, um negative zu "überschreiben". Wer jedoch eine positive Erzählung findet, warum er oder sie zeitweise oder dauerhaft auf ungesunde Nahrungsmittel oder Verhaltensweisen verzichtet, könnte mit mehr Kreativität, Schlaf und psychomentaler Gesundheit belohnt werden. Und vielleicht mit dem Gefühl, nicht mehr alles zu müssen.

Quelle: ntv.de

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