Deutschland? Setzen, sechs! Viertklässler lesen und rechnen immer schlechter
17.10.2022, 17:33 Uhr
Deutschlands Schulsystem hat Nachholbedarf - der aktuelle Bildungsbericht ist alarmierend.
(Foto: picture alliance / dpa)
Die Hauptnachricht vorweg: Die Defizite in Deutsch und Mathe bei Kindern in der vierten Klasse sind alarmierend. Laut der neuen IQB-Studie hat im Schnitt jeder Fünfte Probleme beim Lesen, Schreiben und Rechnen. Pandemie und Schulschließungen sind nicht allein die Gründe für den Abwärtstrend.
Mangelhaft bis ungenügend - so oder so ähnlich könnte man die Ergebnisse der jüngsten IQB-Studie zusammenfassen: Die Kompetenzen in Deutsch und Mathematik haben sich bei Kindern der vierten Klasse dramatisch verschlechtert. Im Schnitt verfehlen 18 bis 30 Prozent der Schülerinnen und Schüler die Mindeststandards. Dabei zeigt die jüngste Studie, dass die Leistungen in fast allen Bundesländern nachgelassen haben, allerdings in deutlich unterschiedlichem Umfang.
In Bremen sieht es am dramatischsten aus, in Bayern viel besser. Dazwischen tun sich mehrere Abgründe auf, auch, weil die Schere zwischen sozial benachteiligten Kindern oder mit Zuwanderungshintergrund und Kindern aus privilegierteren Familien noch weiter aufgegangen ist, als in den letzten Jahren. Corona spielt eine große Rolle, auch das Geschlecht, ebenso die Herkunft und das Elternhaus eines Kindes.
Untersucht wurde in der Studie, inwieweit Viertklässlerinnen und Viertklässler die bundesweit geltenden Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz (KMK) in den Fächern Deutsch und Mathematik erreichen. Nach 2011 und 2016 ist dies die dritte Erhebung dieser Art. Im Vergleich zur letzten Datenerhebung ist der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die den Regelstandard in den Kompetenzbereichen Lesen, Zuhören und Orthografie sowie Mathematik erreichen, 2021 im Schnitt zwischen acht und zehn Prozent gesunken. Gleichzeitig hat der Anteil der Kinder, die am Ende der vierten Klasse den Mindeststandard verfehlen, in allen Bereichen zwischen sechs und acht Prozentpunkten zugenommen.
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Die Autorinnen und Autoren des IQB-Bildungstrends fanden heraus, dass die Bremer den Bayern um ungefähr ein Schuljahr Lernzeit in Lesen und Zuhören hinterherhinken. Bei Orthografie umfasst die Spanne etwa zwei Drittel eines Schuljahres und in Mathematik drei Viertel eines Schuljahres. Bundesweit sind es auf jeden Fall mehr Schülerinnen und Schüler im Vergleich zu 2016, die am Ende der vierten Klasse die Mindeststandards verfehlen.
Der dramatischste Rückgang wird in Berlin und Brandenburg verzeichnet. In Berlin erreichen die Viertklässlerinnen und Viertklässler 2021 in allen Kompetenzbereichen die Regelstandards seltener, und sie verfehlen häufiger die Mindeststandards als im Bundesdurchschnitt. Damit steht Berlin neben Bremen im Ländervergleich ganz hinten. Besonders gut schneiden die Schülerinnen und Schüler in Bayern und Sachsen ab. Auch Hamburg liegt zum Teil weit vorn. Schlusslicht ist - wie schon 2016 - in fast allen Kompetenzbereichen Bremen. Deutlich schlechter als fünf Jahre zuvor schneiden außerdem die Viertklässlerinnen und Viertklässler in Berlin, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen ab. Hier liegen die Werte klar unter dem bundesweiten Durchschnitt.
Die wichtigsten Ergebnisse
- Lesen: 57,6 Prozent der Viertklässlerinnen und Viertklässler erreichen den Regelstandard, 18,8 Prozent scheitern am Mindeststandard. Während in Sachsen 12,9 Prozent, in Bayern 14,1 Prozent und in Schleswig-Holstein 15 Prozent die Mindestanforderungen verfehlen, scheitern in Nordrhein-Westfalen 21,6 Prozent, in Berlin 27,2 und in Bremen 31 Prozent daran. Den Optimalstandard im Lesen erreichen bundesweit knapp 8 Prozent der Schülerinnen und Schüler. In Bayern (11,4), Sachsen (11,3) und Hamburg (10,9) sind es jeweils um die 11 Prozent, in Thüringen aber nur 4,2 und in Brandenburg 5,7 Prozent.
- Zuhören: 58,9 Prozent der Kinder erreichen bundesweit den Regelstandard im Kompetenzbereich Zuhören. Sachsen schneidet am besten ab, am Schluss stehen Berlin und Bremen. In Berlin verfehlen 27,1 Prozent der Schülerinnen und Schüler der vierten Klassen den Mindeststandard, und nicht einmal die Hälfte (48,4 Prozent) erreicht den Regelstandard. Dahinter folgt gleich Bremen mit 27,4 bzw. 49,4 Prozent. Den Optimalstandard erreicht Hamburg mit 13 Prozent vorn, gefolgt von Bayern mit 11,3 Prozent. In Brandenburg erreichen hingegen nur 4,8 Prozent der Viertklässlerinnen und Viertklässler den Optimalstandard, nur wenig darüber liegen Thüringen (5,4) und Sachsen-Anhalt (5,7).
- Orthografie - der schlechteste Kompetenzbereich: 30,4 Prozent verfehlen die Mindeststandards, nur 44,4 Prozent erreichen die Regelstandards. Die Spannweite zwischen den Ländern ist hier enorm: In Berlin und Brandenburg verfehlt fast jedes zweite Kind die Mindeststandards (46,1 Prozent), in Bayern sind es "nur" 20,5 Prozent. In Bayern erreichen 58 Prozent der Kinder die Regelstandards, in Berlin und Brandenburg sind es jeweils nur etwa 30 Prozent. Der Optimalstandard kommt bundesweit über keine zweistellige Zahl.
- Mathematik: Nur etwas mehr als die Hälfte aller Schülerinnen und Schüler erreichen bundesweit die Regelstandards (54,8 Prozent). Fast 22 Prozent aller Kinder in den vierten Klassen verfehlen hingegen die Mindeststandards. Auch hier sind die Unterschiede zwischen den Ländern groß: In Bremen bleiben 35,6 Prozent der Kinder in den vierten Klassen unter dem Mindeststandard, in Berlin sind es 34,5 Prozent, in Brandenburg 29,2 Prozent und in Nordrhein-Westfalen 28,1 Prozent. Den Optimalstandard erreichen im Durchschnitt 10,5 Prozent: In Sachsen 15,9 in Bayern 14,5 Prozent, in Berlin nur 6,7 und in Brandenburg sogar nur 6,5 Prozent.
Hamburg macht vor, wie es geht
Hamburg verzeichnet beim IQB-Bildungstrend von allen Ländern die größte Erfolgskurve. 2011 gehörte Hamburg zusammen mit Berlin und Bremen zu den Schlusslichtern. Inzwischen hat sich der Stadtstaat weit nach oben abgesetzt. "Ob dies etwas mit der Strategie einer datengestützten Schul- und Unterrichtsentwicklung zu tun hat, die das Land in mehr als 20 Jahren konsequent etabliert und weiterentwickelt hat, lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen", heißt es in der Erhebung, es erscheine jedoch plausibel.
Mithilfe von Fragebögen wurden beim IQB-Bildungstrend auch der soziökonomische Status und das kulturelle Kapital der Eltern erfasst. Daraus lassen sich Rückschlüsse ziehen, inwieweit die Kompetenzen der Kinder vom sozialen Status und vom Bildungshintergrund der Eltern abhängen. Nach Analyse der Autorinnen und Autoren des Bildungstrends erreichen Kinder aus Familien mit einem höheren sozioökonomischen Status - wenig überraschend - im Durchschnitt höhere Kompetenzwerte.
Bei Kindern mit Zuwanderungshintergrund lassen sich laut IQB-Bildungstrend deutlich stärkere Kompetenzrückgänge feststellen als bei Kindern ohne Zuwanderungshintergrund und mit Muttersprache Deutsch. Besonders betroffen sind dabei Kinder der ersten Generation, die selbst im Ausland geboren wurden. Bei ihnen zeigen sich deutliche Lernrückstände in allen Kompetenzbereichen, besonders aber im Bereich Zuhören. Das lasse sich vor allem darauf zurückführen, dass Kinder, die zu Hause eine andere Sprache sprechen als Deutsch, gerade in der Zeit des Homeschoolings während der Pandemie weniger Gelegenheit hatten, ihre deutschsprachigen Kompetenzen weiterzuentwickeln, sagte Petra Stanat, wissenschaftliche Leiterin des IQB bei der Vorstellung des Bildungstrends.
Corona fördert Defizite
Bundesweit hat sich der Anteil von Kindern mit Zuwanderungshintergrund seit 2011 um 14 Prozent erhöht. Insgesamt lag der Anteil der Viertklässlerinnen und Viertklässler, die zu Hause immer Deutsch sprechen, 2021 nur noch bei knapp 62 Prozent. 2016 waren es noch 73 Prozent und fünf Jahre zuvor 84 Prozent.
Der große Kompetenzrückgang zwischen 2016 und 2021 in allen Ländern lässt vermuten, dass dabei auch die pandemiebedingten Einschränkungen im Schulbetrieb eine wesentliche Rolle gespielt haben. Darum hat sich Petra Stanat, Direktorin des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) an der Humboldt-Universität zu Berlin, schon im Sommer bei der Veröffentlichung des Vorabberichts zum IQB-Bildungstrend dafür ausgesprochen, bei den Corona-Aufholmaßnahmen besonders die Sicherung von sprachlichen und mathematischen Basiskompetenzen zu fokussieren. Sie sagte aber auch: "Eine nachhaltige Verringerung des Anteils von Schülerinnen und Schülern, die nicht die Mindeststandards erreichen, wird man durch temporäre Programme wohl nicht erreichen. Hierfür brauchen wir kohärente, langfristig angelegte Strategien mit klaren Zielen, konkreten Umsetzungsplänen und einem begleitenden Monitoring."
Die zwischen April und Juli 2021 getesteten Viertklässlerinnen und Viertklässler waren zu Beginn der Pandemie in der dritten Klasse und haben über ein Jahr durchschnittlich etwa 32 Wochen Fern- oder Wechselunterricht erlebt. Das heißt, mehr als drei Viertel eines Schuljahres hatten sie keinen regulären Präsenzunterricht. Die Pandemiebedingungen erklären dann zumindest auch zum Teil, wieso laut IQB-Bildungstrend besonders Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien und aus Familien, in denen wenig Deutsch gesprochen wird, auffällig schlechtere Leistungen zeigen als der Durchschnitt. Gerade diese Kinder hatten meist deutlich schlechtere Lernbedingungen als Kinder aus privilegierteren Familien.
Alte Rollenbilder scheinen auch 2022 immer noch zu greifen: Mädchen weisen in den Kompetenzbereichen in Deutsch höhere Werte auf, Jungen demgegenüber in Mathematik. In der Orthografie ist der Vorsprung bei den Mädchen am höchsten. Das entspricht den Testergebnissen von 2016 und 2011 und ist in allen Ländern ähnlich. So weisen Mädchen laut IQB-Bildungstrend ein höheres Selbstkonzept - also die Einschätzung der eigenen Person - im Fach Deutsch und Jungen in Mathematik auf. In Mathematik sind Mädchen demnach ängstlicher als Jungen. Bei Deutsch lassen sich solche Unterschiede nicht feststellen. Bei beiden Geschlechtern gleichermaßen zeigt sich aber im IQB-Bildungstrend 2021 ein insgesamt niedriger ausgeprägtes Selbstkonzept als 2016.
Quelle: ntv.de, soe