Auch Deutschland denkt um Wie die USA mit neuen Taktiken auf Amokläufe reagieren
12.10.2025, 15:42 Uhr Artikel anhören
Auf diesem Bild eines Überwachungsvideos reagieren Polizisten auf die Schüsse in der Robb Elementary School in Uvalde.
(Foto: -/Uvalde Consolidated Independen)
Immer wieder kommt es in den USA zu Amokläufen. Jahrelang setzt die Polizei auf eine defensive Strategie. Doch nach Vorfällen bei denen es zu viele Opfer durch zögerliches Eingreifen gibt, wird die Strategie angepasst. Auch in Deutschland.
Es klingt wie ein Alptraum, auf den sich niemand vorbereiten möchte: Ein Amoklauf, ein Schütze in einer Schule oder auf offener Straße. Jahrzehntelang galt die Strategie der Polizei in vielen Ländern, zunächst die Umgebung abzusichern und auf das Spezialkommando zu warten. Doch diese Minuten können über Leben und Tod entscheiden. In den USA hat sich deshalb eine neue Taktik durchgesetzt - schneller, direkter, riskanter.
"Chaos, absolutes Chaos!", ruft Ausbilder Chris Ragone, während laute Schüsse durch ein verwinkeltes Trainingszentrum in Texas hallen. Auf Pappzielen sind bewaffnete Angreifer abgebildet, doch die Anspannung bei den Teilnehmern ist real. Jeder Fehler könnte im Ernstfall tödlich sein. "Das Ziel ist, die Gefahr so schnell wie möglich auszuschalten - auch wenn man dabei das eigene Leben riskiert", sagt Ragone im Gespräch mit ntv.
Teilnehmer Patrick, ein ehemaliger Soldat, weiß: "Allein würde ich es nicht schaffen. Man kann nicht überall gleichzeitig hinschauen." Sein Kollege Adam, ehemaliger Polizist, spricht vom gefürchteten Tunnelblick: Wer sich nur auf einen Punkt fixiert, übersieht die Bedrohung nebenan. Im Training lernen sie, den Blick kurz nach rechts und links schweifen zu lassen, um das Sichtfeld wieder zu öffnen.
Wer zuerst am Tatort ist, greift sofort ein
Schon während seines letzten Wahlkampfs forderte Donald Trump, Lehrer stärker zu bewaffnen und Polizeipräsenz an den Schulen auszubauen. Das verstärkt die Debatte zusätzlich. In vielen Bundesstaaten werden Milliarden Dollar in Sicherheitsprogramme und Trainings wie diese gesteckt. Der Kern der neuen US-Taktik: Wer zuerst am Tatort ist, greift sofort ein, selbst allein. Warten ist keine Option. Nach den Schulmassakern von Uvalde, Parkland und Nashville weiß man dringender denn je, dass jede Sekunde zählt.
Lange Zeit reagierte die Polizei bei Amoklagen mit Absperrungen und damit auf das Swat-Team zu warten. Das ist eine taktische Polizeieinheit, die für den Umgang mit gefährlichen Situationen wie Geiselnahmen, Geiselrettungen oder die Festnahme bewaffneter Verdächtiger ausgebildet und ausgerüstet ist. Erst bei mindestens vier Beamten durfte man eingreifen.
Der Amoklauf an der Columbine Highschool 1999 zeigte die Schwächen dieser Taktik: Die Einsatzkräfte warteten 47 Minuten, 13 Menschen starben. In der Folge entstand das Konzept des "Immediate Action Rapid Deployment (IARD)". Dabei greifen die zuerst eintreffenden Streitkräfte sofort ein, notfalls allein. Trainingsprogramme wie "ALERRT" in Texas machten das Vorgehen ab 2002 bekannt. Doch es dauerte bis 2013, bis das FBI das Programm "ALERRT" zum nationalen Standard erklärte.
Bis heute keine konsequente Umsetzung
Bis heute ist die Umsetzung nicht überall konsequent. Besonders drastisch zeigte sich das 2022 in Uvalde, Texas. Während ein 18-Jähriger in einer Grundschule 21 Menschen erschoss, warteten 376 Beamte mehr als eine Stunde, ohne einzugreifen – obwohl Kinder über Notrufe um Hilfe flehten.
Und in Deutschland? Auch hier beschäftigen sich Polizei und Innenministerium seit Jahren mit Amoklagen. Nach dem Amoklauf von Winnenden 2009, bei dem 15 Menschen starben, nach Hamburg 2023, als ein Schütze in einer Kirchengemeinde sieben Menschen tötete und nach dem erst kürzlichen Messer-Angriff auf eine Lehrerin an einer Essener Schule, wurde das Einsatzkonzept angepasst.
Der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Jochen Kopelke betont gegenüber ntv.de, dass die alte Strategie, Gebäude zu umstellen und auf Spezialkräfte zu warten, nicht mehr angewendet wird. Heute gehe es darum, Täter sofort unter Druck zu setzen, "reinzugehen" und dadurch weitere Opfer zu verhindern. "Das verlangt den Einsatzkräften viel Mut und Professionalität ab", so Kopelke. Oft enden solche Einsätze mit Suiziden der Täter, weil ihr Handlungsspielraum unmittelbar eingeschränkt wird. Entscheidend sei, schnellstmöglich Informationen zu bekommen – egal ob es sich um einen Schützen oder einen Messerangreifer handelt.
Ausrüstung der Polizei wurde angepasst
Auch bei der Ausrüstung hat sich in Deutschland viel getan. Schwere Schutzwesten, ballistische Decken und moderne Bewaffnung gehören inzwischen zur Standardausstattung der Streifenwagen. "Unsere Polizistinnen und Polizisten sind gut vorbereitet", sagt Kopelke. Allerdings bremst die hohe Belastung im Alltag die Zahl der Übungen und Fortbildungen. Statt auf die Bewaffnung von Lehrkräften setzt man außerdem auf Prävention, digitale Frühwarnsysteme und Deeskalation.
Eine Frage bleibt: Reicht das? Die Bilder aus den USA zeigen, wie hart die Realität sein kann. Schreie, Schüsse, Adrenalin. Selbst in einer Übung übersehen die Teilnehmer "Angreifer" im Schrank oder hinter Türen. "Man kann nie alles verhindern", sagt Adam nachdenklich. "Irgendwo ist man immer in Gefahr." Ein Satz der angesichts der jüngsten politischen Entwicklungen in den USA noch schwerer wiegt. Denn während dort die Waffenlobby stärker wird, stellen sich die europäischen Sicherheitsbehörden auf eine Welt ein, in der Amok und Anschläge jederzeit Realität sein können.
Quelle: ntv.de