
Findet noch immer, wie viele andere auch, dass sie richtig gehandelt hat: Bundeskanzlerin a.D. Angela Merkel.
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Zehn Jahre nach ihrer Aussage "Wir schaffen das" sieht Altkanzlerin Merkel große Fortschritte bei der Integration der damals in Deutschland aufgenommenen Flüchtlinge. Viele Menschen in Deutschland haben eine gänzlich entgegensetzte Meinung dazu. Versuch einer Bestandsaufnahme.
Binnen weniger Monate überschreiten im Spätsommer 2015 Zehntausende Geflüchtete die deutsche Grenze. Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel trifft eine weitreichende Entscheidung: Alle dürfen rein, niemand wird von der Polizei aufgehalten. "Wir schaffen das", versichert die CDU-Politikerin am 31. August 2015 - ein historisches Versprechen. Etwa 1,1 Millionen Asylsuchende suchen in den Jahren 2015 und 2016 in Deutschland Schutz.
Ihre Formulierung von vor zehn Jahren, die mittlerweile zum Symbol der Migrationspolitik von damals geworden ist, sei für sie nichts Besonderes gewesen. "Ich habe in den Reden, die ich im Laufe meiner Kanzlerschaft gehalten habe, sehr, sehr oft den Satz 'Wir schaffen das' gesagt", so Merkel. "Der hat nur nie die große Aufmerksamkeit bekommen, weil er in dieser Situation natürlich sehr markant war", fügt sie hinzu. Die Entscheidung der damaligen Kanzlerin, zwischen 2015 und 2016 die Grenzen offenzuhalten und hunderttausende über die Balkanroute Geflüchtete nach Deutschland einreisen zu lassen, hat das Land vor massive Herausforderungen gestellt und ist heute noch Gegenstand kritischer Debatten.
Inzwischen sei zumindest beim männlichen Teil der Geflüchteten die Beschäftigungsquote fast so hoch wie in der Gesamtbevölkerung, sagt Merkel zehn Jahre später in einem Interview mit der "Augsburger Allgemeinen" und man meint fast herauszuhören, dass es ein bisschen trotzig geklungen haben könnte. Denn die Euphorie von 2015 und der überaus menschlichen Reaktion der damaligen Kanzlerin - man wünschte sich übrigens mehr Emotionen von Angela Merkel, denn man fand sie oft zu sachlich - ist einer gewissen Ernüchterung gewichen.
"Das ist schon eine riesige Leistung, die dort vollbracht ist", betont Merkel deshalb vielleicht auch, wie, um sich selbst zu bestätigen. Sie sehe den Satz "Wir schaffen das" und ihre damalige Entscheidung, die in Ungarn gestrandeten Flüchtlinge aufzunehmen, deshalb weiterhin nicht kritisch. Und überhaupt, "Wir schaffen das" habe sie öfter gesagt, auch bei anderen Themen, da habe es nur niemand so aufgebauscht.
Was war die Alternative?
Es sei für sie unvorstellbar gewesen, Wasserwerfer an die Grenzen zu stellen und Menschen zurückzudrängen, so Merkel: "In der Politik muss man sich fragen: Was ist eigentlich die Alternative?" Und wer hätte ihr da eine Antwort geben können? Geben wollen? Die Welt war eine andere im Jahr 2015, und Merkel wollte europäisch denken, nicht nur deutsch. Dafür sind ihr viele noch heute dankbar. Viele auch nicht.

Nach dem Treffen sagte Modamani: "Es war ein unbeschreibliches Gefühl, denn sie hat das Leben vieler Syrer gerettet. Auch meins."
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Dankbar ist zum Beispiel Anas Modamani - er hat geschafft, was die meisten anderen deutschen Bundesbürger nicht schaffen: Sein Foto ist nicht nur in Angela Merkels Buch verewigt, sondern für immer in der Geschichte. Sein Selfie mit der Kanzlerin im Jahr 2015 ging um die Welt. "Ich habe erst eine Minute später realisiert, wer sie ist", erzählte er ntv.de im April 2025. "Natürlich wusste ich, wer die Bundeskanzlerin von Deutschland ist, aber in dem Moment habe ich Frau Merkel nicht sofort erkannt. Ich war aufgeregt", sagt der junge Mann vor einem Treffen mit Angela Merkel im April dieses Jahres.
Blick nach vorn
Ganz ähnlich sieht das Gaith Tasin, der ebenfalls 2015 aus Syrien nach Deutschland floh. "Ich bin sehr dankbar vor allem für die Faktoren Sicherheit und Freiheit. Vor allem aber auch für die Zuversicht, mit der ich mein Leben und mein Denken gestalten kann", sagt er ntv.de. "Meine berufliche Situation in meiner kreativen Branche hätte besser laufen können, sicher, und es war oft hart, den richtigen Beruf nebenher zu finden, um als aufstrebender Künstler existieren zu können." Aber momentan läuft es gut: "Ich arbeite in einer Berliner Galerie als Restaurator."
Tasin ist angekommen, auch wenn die Wehmut ihm manchmal das Herz zerreißt. Erst vor ein paar Monaten war der 32-Jährige in Damaskus, und "da gibt es viel zu erzählen", lacht er, aber wirklich wichtig sei es ihm, in die Zukunft zu schauen, und nicht zurück. Der junge Maler hat geheiratet und will Konservierung und Restaurierung für Wandmalerei studieren, "damit ich dazu beitragen kann, das syrische Kulturerbe zu retten".
Woran sich die Geister scheiden: Familiennachzug
Neun Jahre hat es übrigens gedauert, bis Anis Modamani einen deutschen Pass hatte. Jetzt ist er Berliner, lebt, liebt und arbeitet in der Hauptstadt. Der 28-Jährige ist schon seit längerem Video-Journalist beim Sender "Deutsche Welle". Grundsätzlich will er nicht zurück nach Syrien - auch wenn das Regime Baschar al-Assads nun gestürzt ist.
Das dürfte einigen in Deutschland ein Dorn im Auge sein, denn der Wind ist wesentlich rauer geworden. Dabei wäre etwa der Familiennachzug essenziell für die Integration, sagt Katrin Albrecht, Geschäftsführerin von "Flüchtlingspaten Syrien". Das habe einen bedeutenden Effekt auf die Integration.
Nach dem Sturz des Assad-Regimes organisiert das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge seit Mitte Januar freiwillige Ausreisen nach Syrien. Vorläufigen Zahlen zufolge gab es bisher 804 Ausreisen (Stand 31. Mai). Ende 2024 lebten nach Angaben der Bundesregierung 975.000 Syrerinnen und Syrer in Deutschland.
Der Berliner Verein unterstützt syrische Geflüchtete dabei, Familienmitglieder über private Bürgschaften nach Deutschland zu holen. Rund 300 Menschen half der Verein seit 2015, mit einem Visum einzureisen. Dabei gab eine steuerpflichtige Person in Deutschland eine Verpflichtungserklärung ab und bürgte dafür, dass fünf Jahre lang keine staatlichen Hilfen in Anspruch genommen werden. In Berlin wurden seit 2013 auf diesem Weg knapp 4100 Menschen aufgenommen, der Verein macht das mithilfe von Spenden. Seit Ende 2024 sind private Flüchtlingsbürgschaften in Berlin nicht mehr möglich. Auch in den anderen Bundesländern besteht diese Möglichkeit Albrecht zufolge nicht mehr.
Wie an Tag eins
Einer, der da war - und ist - als die Flüchtenden in Berlin ankamen, ist Andreas Tölke. Als Sohn einer deutschen Jüdin, die den Holocaust überlebt hat und den Rest ihres Lebens unter den Folgen litt, empfand er es sein Leben lang als furchtbar, dass seine Mutter nicht flüchten konnte. "Dass Menschen, denen die Flucht gelungen ist, in Berlin obdachlos auf der Straße landeten, war für mich unerträglich", beschreibt er ntv.de seine Motivation.
Er öffnete seine privaten Türen, und nicht nur das: Er wollte einen Ort der Begegnung schaffen - ohne Vorbedingungen. Das Restaurant "Kreuzberger Himmel" in der Yorkstraße entstand: "Menschen, die nach Deutschland gekommen sind, erleben deutsche Gäste. Ganz normale Deutsche, keine Behörden, keine ehrenamtlichen Helfenden. Umgekehrt erleben Deutsche eine Begegnung mit Menschen aus sehr unterschiedlichen Ländern, die sie oftmals nur aus Medienberichten kennen - die dort in der Regel als Deutschlands größtes Problem dargestellt werden. Im Restaurant sind das auf einmal ganz normale junge Menschen, die sich hier eine Existenz aufbauen", erzählt Tölke. Der 65-Jährige ist inzwischen in der Ukraine-Hilfe aktiv, gerade ist er in Cherson, mit Stahlhelm und demselben Engagement wie an Tag eins.
Wie diese Leben, diese humanitären Katastrophen, Schnittmengen bilden, zeigt die Aussage des Syrers Modamani: "Was damals passiert ist, wie wir aufgenommen wurden, das ist nach wie vor großartig. Und ja, es ist ganz eindeutig so, dass Syrien noch immer Hilfe braucht. Aber die Ukraine braucht mehr Hilfe, das Land ist näher an Deutschland, mitten in Europa."
Hat Deutschland es nun geschafft?
Ist Angela Merkels Versprechen erfüllt worden? Viele Syrerinnen und Syrer hätten sich sehr gut in Deutschland integriert, sagt Katrin Albrecht. Einige seien richtig durchgestartet und nicht nur für die Gesellschaft, sondern auch für den Arbeitsmarkt eine Bereicherung.
"Die Frage ist, ob man hinter 'Wir schaffen das' eine Integrationsleistung sehen möchte, und das unterscheidet sich von Mensch zu Mensch", sagt die Vereinschefin. Viel wichtiger ist aus ihrer Sicht aber ein anderer Punkt: Die Aufnahme der Geflüchteten habe Tausenden Menschen das Leben gerettet. "Das haben wir geschafft." Trotzdem sei es auch nach zehn Jahren damit nicht getan.
"Wir hätten es schaffen können. Wir hätten es schaffen können, wenn es eine Willkommenskultur geblieben wäre", sagt hingegen Tölke. Er ist stolz auf jede einzelne Person, die er und sein Team begleitet haben und die sich nie wieder gemeldet hat. "Wer sich nicht meldet, hat keine Probleme und Fragen mehr, das heißt: er oder sie ist integriert", lacht er. "Ich bin stolz auf ein winziges Team, das unglaublich präzise und hochkonzentriert an sehr komplexen Fragestellungen arbeitet und Ergebnisse erzielt, die jedes Wirtschaftsunternehmen fassungslos machen würden", fährt er fort. Und betont: "Wir hätten es schaffen können, wenn die Angstmache der AfD nicht so sehr die Menschen beeinflusst hätte. Wir hätten es schaffen können, wenn wir konsequenter gegen radikalen Islam vorgegangen wären. Jetzt, hier und heute, zweifle ich sehr."
Auf die Frage, warum er zweifelt, antwortet der ehemalige Journalist: "Ich zweifle ständig - an der deutschen Gesellschaft, die sich immer mehr abschottet und sich von Dogmen und radikalen Kräften dazu verführen lässt, sich einzuigeln. Ich zweifle aber auch an der Bereitschaft einiger, die in Deutschland angekommen sind, sich hier wirklich zu integrieren."
Und auch wenn viele inzwischen gut integriert sind - die Lage ist angespannt: "Ich soll zurück in meine Heimat gehen", sagt Anas Modamani, der Vorzeige- und "Selfie-Syrer". "Ich lebe jetzt aber hier. Die Anfeindungen sind in den vergangenen Jahren wieder mehr geworden."
Festzuhalten bleibt: Eine gut organisierte Zuwanderung ist für Deutschland überlebenswichtig, wir werden sonst schlichtweg aussterben. Aber werden wir das schaffen?
Quelle: ntv.de, mit dpa