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Deutschland probt den Ernstfall "Wir wissen, dass das Sirenen-Netz brüchig ist"

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Nicht alle Kommunen sind mit Sirenen ausgestattet - das Netzwerk der Anlagen in Deutschland gleicht vielmehr einem Flickenteppich.

Nicht alle Kommunen sind mit Sirenen ausgestattet - das Netzwerk der Anlagen in Deutschland gleicht vielmehr einem Flickenteppich.

(Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild)

Naturkatastrophen, Chemieunfälle, Anschläge: Wie schnell können möglichst viele Menschen vor ernsthaften Gefahren gewarnt werden? Das testet der Bund heute zum dritten Mal. Bei den ersten beiden Durchgängen kam es zu Pannen. Und auch dieses Mal steht das Warnsystem vor einigen Herausforderungen.

10. September 2020, 11 Uhr mittags: Deutschland wartet darauf, gewarnt zu werden. In diesem Moment sollen bundesweit die Sirenen aufheulen und Smartphone-Bildschirme aufleuchten. Doch das passiert nicht. In vielen Städten bleibt es still, auf den Handys tut sich - wenn überhaupt - erst mit großer Verzögerung etwas. Wo die Bevölkerung lautstark auf den Ernstfall vorbereitet werden soll, geht die Übung an Teilen der Gesellschaft komplett vorbei.

Der erste bundesweite Warntag vor rund drei Jahren war ein Desaster. Das räumte auch das zuständige Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) ein - nur wenige Tage nach dem missglückten Alarm musste der damalige Präsident Christoph Unger gehen. Beim zweiten Probealarm im Dezember 2022 lief es um einiges besser, wenn auch nicht ganz fehlerfrei. Nun steht das BBK vor dem dritten Versuch.

Gegen 11 Uhr löst die Behörde den Probealarm über das Modulare Warnsystem aus. Mit nur einem Mausklick wird die Warnung über alle Kanäle, die an das System angeschlossen sind, gesendet. Dazu gehört der mobile Warndienst Cell Broadcast und die Warnapps Nina, Biwapp und Katwarn sowie Anzeigetafeln in den Städten. Gleichzeitig erreicht die Meldung sogenannte Warnmultiplikatoren, etwa Fernseh- und Radiosender, die den Alarm ebenfalls verbreiten sollen. Auch Sirenen und Lautsprecherwagen gehören zum Katastrophenschutz. Diese sind allerdings nicht an das Bundes-System angeschlossen, sondern werden von den jeweiligen Kommunen gesteuert. Gegen 11.45 Uhr kommt schließlich die Entwarnung. Um Bilanz ziehen zu können, ruft die Behörde anschließend alle Menschen dazu auf, auf www.warntag-umfrage.de zu erklären, inwieweit sie der Warntag erreicht hat.

Warnungen werden immer relevanter

Der Probealarm ist in erster Linie ein Stresstest für die technische Infrastruktur, wie Marianne Suntrup vom BBK im Gespräch mit ntv.de erklärt. "Wir wollen Menschen aber auch für das Thema Warnung sensibilisieren." Wenn es schnell gehen muss, etwa bei Terroranschlägen oder Naturkatastrophen, sollen ihnen behördliche Alarmierungen möglichst vertraut sein. Gerade vor dem Hintergrund von zunehmenden Extremwetterereignissen werde dies immer wichtiger, betont die Expertin. "Sie brauchen nur auf die vergangenen drei Wochen zu schauen: Ein großer Teil Europas versinkt in Fluten oder brennt." Warnungen gewinnen daher deutlich an Relevanz. "Nur, wer rechtzeitig gewarnt wird, hat eine Chance, sich in Sicherheit zu bringen oder Schutzvorkehrungen zu treffen."

Hätte es sich im September 2020 um einen Ernstfall gehandelt, hätte es diese Chance auf rechtzeitigen Schutz nicht gegeben. Das bundesweite Warnsystem versagte. Grund dafür war eine Überlastung des Programms, wie sich später herausstellte. Der Aus- und Umbau zog sich anschließend weit über ein Jahr, weshalb der Warntag 2021 abgesagt wurde. Beim zweiten Versuch am 8. Dezember 2022 erreichte das Warnsystem nach Angaben des BBK schließlich über 90 Prozent der Menschen in Deutschland über mindestens einen Kanal.

"Wenn wir solch eine Quote dieses Jahr wieder erreichen würden, wären wir froh", sagt Suntrup. Zwar versuche die Behörde die Quote der einzelnen Kanäle weiter auszubauen, insgesamt habe der vergangene Probealarm jedoch gut funktioniert. Das schließe auch die erste großflächige Anwendung des neuen Cell-Broadcast-Systems ein.

Lerneffekt beim Cell Broadcast

Mit der Einführung von Cell Broadcast war Deutschland im EU-Vergleich spät dran, in anderen Ländern war das System längst im Einsatz. Ein bedeutender Vorteil ist, dass diese Art des Alarms keine App benötigt - die Nachricht wird wie Rundfunksignale an alle kompatiblen Geräte geschickt, die in einer Funkzelle eingebucht sind. Dass diese Erweiterung der Warnapps notwendig ist, zeigte sich vor allem bei der Flutkatastrophe im Ahrtal im Sommer 2021. Damals versagten die gängigen Warnsysteme, die meisten Menschen wurden nicht rechtzeitig über die drohende Überschwemmung informiert. Mindestens 135 Menschen starben bei der Katastrophe, Tausende Gebäude wurden zerstört.

Dem BBK zufolge konnten bei der vergangenen Übung 53 Prozent der Menschen über Cell Broadcast erreicht werden. "Auch wenn das längst nicht alle sind, ist diese Zahl ein Erfolg", sagt Suntrup. Denn auch bei Cell Broadcast-Meldungen gibt es einige Einschränkungen: Die Warnmeldungen erreichen das Handy nur, wenn es eingeschaltet ist und sich weder im Flugmodus noch im Funkloch befindet. Das jeweilige Betriebssystem muss auf dem aktuellsten Stand sein, wobei einige ältere Geräte auch dann nicht erreicht werden können. Eine Entwarnung gibt es über das System nicht.

Die Nachrichten über das Cell Broadcast-System können zudem nur sehr kurz sein und allenfalls die wesentlichen Informationen übermitteln. Für Details und Handlungsempfehlungen werden die Adressaten über einen Link auf eine Website mit weiteren Informationen geleitet. Das führte bei dem Probealarm im vergangenen Jahr jedoch prompt zu einer Panne: Als zu viele Menschen gleichzeitig auf den Link klickten, brach die Seite teilweise zusammen. "Auch das war für uns ein Lerneffekt", sagt Suntrup. Die Serverkapazitäten seien daraufhin erweitert worden.

Bund setzt auf Warnmittel-Mix

Die Behörde sei sich bewusst, dass sie es nicht schaffen wird, alle Menschen über nur einen Kanal zu erreichen, sagt Suntrup. "Deshalb setzen wir in Deutschland auf viele verschiedene Kanäle, den sogenannten Warnmittel-Mix. Wenn alle zusammenwirken, kommen wir auf die 90 Prozent." Zu diesem System gehören, das betont die Expertin, auch Sirenen und Lautsprecheranlagen.

Darin liegt allerdings gleichzeitig die Herausforderung des bundeseinheitlichen Warnsystems. Denn die Sirenen sind, wie der Katastrophen- und Bevölkerungsschutz generell, Ländersache. Das BBK ist lediglich für die Krisenvorsorge sowie die Warnung der Bevölkerung zuständig. Das führt zum einen dazu, dass die Behörde die Sirenen nicht zentral steuern kann. Weil die einzelnen Kommunen ihre Sirenen selbst einschalten müssen, erfolgt diese Warnung erst etwas später als jene über Anzeigetafeln oder Smartphones. Zum anderen gleicht das Netzwerk an Sirenen in Deutschland einem Flickenteppich.

Bis Ende der 1990er-Jahre gab es in Deutschland noch ein bundesweites Sirenen-Netz, erklärt Suntrup. Als die Zuständigkeit schließlich an die Länder fiel, entschieden sich einige Kommunen dafür, nicht mehr mit Sirenen zu warnen. Viele Anlagen wurden nicht mehr gewartet oder abgebaut. So kommt es, dass einige Kommunen, wie etwa das baden-württembergische Ehingen, mit Sirenen ausgestattet sind und diese sogar einmal im Monat selbstständig testen, während in anderen Regionen keine einzige dieser Anlagen mehr zu finden ist. In Berlin fällt das Heulen der Sirenen während des Probealarms beispielsweise aus. Ein großer Teil der geplanten Anlagen ist noch nicht wieder installiert und bei den bereits aufgestellten fehlt derzeit die Möglichkeit, sie einzuschalten. Ähnlich mau sieht es etwa in Hannover aus - die Stadt hat erst vor wenigen Tagen ihre erste Sirene installiert.

Die Bedeutung der Sirenen

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"Wir wissen, dass das Sirenen-Netz brüchig ist", sagt Suntrup. Allerdings habe man an den vergangenen beiden Warntagen auch gemerkt, wie wichtig Sirenen für die Bevölkerung sind. "Wer eine Sirene heulen hört, weiß, dass etwas passiert ist." Menschen begreifen schnell, dass sie sich möglicherweise in Gefahr befinden und informieren müssen. Aus diesem Grund unterstützt der Bund die Länder beim Aufbau neuer Anlagen mit 88 Millionen Euro. Außerdem sollen die Sirenen künftig auch über das modulare Warnsystem beim BBK gesteuert werden können. Dies werde allerdings erst im kommenden Jahr oder 2025 möglich sein, räumt Suntrup ein.

Insgesamt erkennt die Expertin einen Fortschritt in der Krisenvorbereitung - vor allem in der Bevölkerung. So hätten regelmäßige Umfragen ergeben, dass sich die Mehrheit der Menschen deutlich mehr Gedanken über Vorsorge für Notsituationen wie Hochwasser oder Stromausfälle macht. Viele haben etwa eine Dokumentenmappe griffbereit und haben sich eine Hausapotheke sowie einen Vorrat an Lebensmitteln zugelegt. "Der Umfrage zufolge hat außerdem jeder Zehnte Notgepäck bereitgestellt und zumindest jeder Dritte eine Warnapp installiert, sagt Suntrup. "Das sind Zahlen, die hätte es noch vor fünf Jahren so nicht gegeben."

Quelle: ntv.de

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