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Expertin ordnet Vorfall ein "Zum Sylt-Video passiert jetzt viel Aktionismus"

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"Dass Menschen Zivilcourage zeigen und Rechtsextremismus widersprechen, ist erstmal gut", sagt Lamberty.

"Dass Menschen Zivilcourage zeigen und Rechtsextremismus widersprechen, ist erstmal gut", sagt Lamberty.

(Foto: picture alliance/dpa)

Die rassistischen Ausfälle auf Sylt sollten nicht als ein "Fauxpas im Rausch" abgetan werden, sagt Pia Lamberty. Sie ist Co-Geschäftsführerin des Centers für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS), ein Thinktank, der sich mit Verschwörungsideologien und Rechtsextremismus befasst. Im Interview mit ntv.de erklärt sie, was das Video zur Projektionsfläche macht und warum die aktuelle Aufregung zu kurz greift.

ntv.de: Die jungen Partygäste, die in einem Sylter Nobellokal rassistische Parolen skandieren, haben bundesweit Empörung ausgelöst. Lässt sich das noch mit einem Alkoholrausch oder schlicht Dummheit erklären oder haben wir es hier tatsächlich mit Rechtsextremen zu tun?

Pia Lamberty: Man kann den Menschen nicht in den Kopf schauen. Ich warne aber davor, das als Fauxpas im Rausch abzutun, weil diese Aussagen ja eine Grundlage haben müssen. Nicht jeder Mensch, der stark alkoholisiert ist, verfällt in rassistische oder rechtsextreme Gesänge. Da muss eine ideologische Offenheit vorhanden sein.

Aber ideologische Offenheit macht die Feiernden auf Sylt nicht zwangsläufig zu Rechtsextremisten?

Ob das jetzt Rechtsextreme sind oder Menschen, die man als "normale Bürger" bezeichnen würde: Beides ist eine Gefahr. Dass von Rechtsextremen eine unmittelbare Gefahr ausgeht, sollte hinlänglich bekannt sein. Aber Rechtsextreme agieren nicht im luftleeren Raum, sondern es gibt immer auch die, die man vielleicht nicht als Extremisten einordnet, die aber diese Ideologien befeuern, ihnen einen größeren Rahmen geben und sie damit in die Gesellschaft tragen.

Die Kombination des Songs "L'amour toujours" und rechtsextremer Parolen kursiert schon seit geraumer Zeit in den sozialen Medien. Im vergangenen Jahr machten Aufnahmen aus Mecklenburg-Vorpommern die Runde, auf denen Besucher eines Volksfests den Text lauthals mitsingen. Warum schlägt ausgerechnet das Video aus Sylt nun so hohe Wellen?

Das hat vermutlich mit dem Bruch von Erwartungen zu tun. In der Debatte um Rechtsextremismus findet sich oft ein Stereotyp wieder: Die seien alle abgehängt, Bildungsverlierer und von Wohlstandsverlust betroffen. Diesmal wird jedoch nicht das Klischee des ostdeutschen Dorffests bedient, sondern im Fokus stehen die "Reichen und Schönen". Zugleich gab es in den vergangenen Monaten bereits viele Auseinandersetzungen mit den Ursachen von Rechtsextremismus und welche Rolle die gesellschaftliche Mitte dabei spielt. Es ist wichtig zu verstehen, dass man Rechtsextremismus nicht nur über Armut und Bildungsabschluss erklären kann, sondern sich mit der gesellschaftlichen Verankerung auseinandersetzen muss. Rechtsextremismus zieht sich durch alle Schichten, unter den AfD-Abgeordneten sind bekanntlich viele Akademiker. Dieses Video ist auch eine Projektionsfläche, an der sich gerade vieles entlädt.

Viele Menschen zeigen sich schockiert und verurteilen den Vorfall. Wie bewerten Sie die Reaktionen auf das Video?

Dass Menschen Zivilcourage zeigen und Rechtsextremismus widersprechen, ist erstmal gut. Auch an anderen Orten, an denen dieses Lied gesungen wurde, gibt es jetzt Anzeigen. Derzeit passiert aber auch viel Aktionismus, weil dieses Video eben so konkret ist.

Inwiefern?

Als die AfD in den vergangenen Jahren immer mehr an Zustimmung gewonnen hat, haben sich viele Menschen hilflos gefühlt. Dann kam die Correctiv-Recherche, die einen Effekt auslöste, der in der Psychologie "Agency" genannt wird: Es gab plötzlich eine Handlungsmacht. Das ist jetzt wieder so ein Moment. Menschen begeben sich auf die Suche: Wer sind die Personen in dem Video? Sie veröffentlichen die Namen, schreiben den Arbeitgebern. Sie haben das Gefühl, etwas gegen Rechtsextremismus tun zu können. Ich würde mir allerdings eine langfristigere Auseinandersetzung mit der Frage wünschen, wie sich wirklich etwas ändern kann für Menschen, die von Rassismus betroffen sind. Ansonsten wendet man für diesen Vorfall, so schlimm er auch ist, unglaublich viel Energie auf, aber strukturell ändert sich wenig.

Wie könnte eine langfristige Auseinandersetzung aussehen?

Der Fokus sollte nicht nur auf dem Video selbst liegen, sondern immer auch auf der Frage: Was bedeutet es, als nicht deutsch wahrgenommene Person in Deutschland zu leben? In den sozialen Medien haben viele von Rassismus betroffene Personen ganz anders auf das Video reagiert. Für sie ist das kein Einzelfall, sondern alltägliches Erleben. Letzte Woche wurde die Statistik für politisch motivierte Kriminalität für 2023 vorgestellt. Die Zahl der Straftaten gegen Geflüchtete ist um 75 Prozent gestiegen. Das war eher eine Randnotiz, dabei ist das eine Verdichtung von Gewalt, mit der sich eine Gesellschaft auseinandersetzen muss. Auf Sylt gab es an dem Pfingstwochenende noch einen zweiten Vorfall, bei dem eine junge Frau offenbar rassistisch beleidigt und geschlagen wurde. Der Fall ist nicht so viral gegangen wie das Partyvideo.

Das Partyvideo kennt jetzt ganz Deutschland - und damit auch den volksverhetzenden Text.

Man muss sich als Einzelperson, aber auch als Medien die Frage stellen, ob mit der Verbreitung nicht auch ein Ohrwurm in die Köpfe der Menschen gepflanzt wird. Wenn ich Instagram öffne, sehe ich dieses Video überall. Ich kann mir gut vorstellen, dass viele Menschen das Lied jetzt im Kopf haben und eine Verknüpfung herstellen, die vorher nicht da war. Wir sollten uns fragen, wie wir es als Gesellschaft hinbekommen, darüber zu sprechen, ohne andauernd zu reproduzieren.

Warum werden zu einem 25 Jahre alten Popsong plötzlich solche Parolen gesungen? Was passiert da gerade?

Ich weiß nicht, warum es genau dieses Lied ist. Vielleicht war es Zufall, weil es einfach Ohrwurmpotential hat. Aber es ist Teil der rechtsextremen Strategie, sich Räume anzueignen. Es wird versucht, solche Verbindungen herzustellen, Hymnen zu schaffen, die als Codes funktionieren. Wann immer man in nächster Zeit dieses Lied hört, hat man diese Verbindung im Kopf. Das ist ein strategischer Propagandaerfolg der extremen Rechten, da muss man sich nichts vormachen.

Ist das Video ein Beleg für die Normalisierung von rechtem Gedankengut?

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Das lässt sich nur schwer messen. Sicherlich fällt der Vorfall in eine Zeit, in der die AfD immer radikaler wird, dieser Umstand ihrer Popularität aber keinen Abbruch tut. Zugleich wurden rechtsextreme Lieder immer schon in entsprechenden Milieus gesungen. Wenn das in einem Kontext wie auf Sylt stattfindet, wo Leute in einen Club gehen und eigentlich nur feiern wollen, ist die Wirkung aber nochmal eine andere. Die Parolen scheinen laut und sichtbar gewesen zu sein, trotzdem gab es keine dokumentierte Form des Widerspruchs. Das ist eine Art Bestätigung, weil suggeriert wird: Wenn keiner was sagt, kann es nicht so schlimm sein. Und wenn man dann das Gefühl hat, mit diesen Parolen gemeint zu sein, macht das etwas mit dem Sicherheitsgefühl.

Mit Pia Lamberty sprach Marc Dimpfel

Quelle: ntv.de

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