Prozessauftakt in Frankfurt "Der NSU 2.0-Komplex ist nicht aufgeklärt"
16.02.2022, 06:06 Uhr
Schriftzug an der Fassade des Landgerichts in Frankfurt am Main: Die Würde des Menschen ist unantastbar - Artikel 1 des Grundgesetzes.
(Foto: picture alliance/dpa)
Ein 53-Jähriger steht in Frankfurt am Main vor Gericht, er wird verdächtigt, massenhaft rechtsextreme Drohbriefe verschickt zu haben. Der Fall erregte Aufsehen, weil die Daten der Adressatinnen aus Polizeicomputern stammten.
Rund dreieinhalb Jahre nach dem ersten Drohschreiben mit der Unterschrift "NSU 2.0" beginnt am heutigen Mittwoch vor dem Landgericht Frankfurt am Main der Prozess gegen einen 53-Jährigen. Der Mann soll laut Anklage insgesamt 116 Drohschreiben mit volksverhetzenden, beleidigenden und drohenden Inhalten an Politikerinnen und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens verschickt haben. Lange stand in dem Fall die hessische Polizei selbst unter Verdacht.
Die mit dem Synonym "NSU 2.0" unterschriebenen Drohbriefe soll der Angeklagte zwischen Anfang August 2018 und Ende März 2021 per Email, SMS oder Fax unter anderem an Bundestagsabgeordnete, Parlamentarierinnen des hessischen Landtags, eine Frankfurter Anwältin sowie Künstlerinnen und Menschenrechtsaktivistinnen geschickt haben. Das Kürzel "NSU 2.0" nimmt Bezug auf die rechtsextremistische Terrorgruppe, die sich "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) nannte.
Konkret wirft die Anklage dem 53-Jährigen neben 67 Fällen von Beleidigung versuchte Nötigung, Bedrohung, Volksverhetzung, das Verbreiten von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener, Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten und öffentliche Aufforderung zu Straftaten vor. Zudem werden ihm tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte, der Besitz kinder- und jugendpornografischer Schriften sowie ein Verstoß gegen das Waffengesetz zur Last gelegt.
Bedrohte fordern weitere Aufklärung
Aus Sicht der Adressatinnen seiner Drohungen ist der Fall längst noch nicht vollständig aufgeklärt. "Für uns ist es ein Skandal, dass die Ermittlungen gegen einen vermeintlichen Einzeltäter geführt wurden", heißt es in einer am Montag veröffentlichten gemeinsamen Erklärung. Seit der Festnahme des Mannes im Mai 2021 werde der Versuch unternommen, den Komplex als endgültig aufgeklärt zu präsentieren.
"Nach allem, was wir wissen, steht für uns jedoch fest: Der NSU 2.0-Komplex ist mit der Festnahme des Angeklagten nicht aufgeklärt. Es gibt für uns zwingende Hinweise auf mindestens gezielte Datenweitergabe aus Polizeikreisen", heißt es in der Stellungnahme der Frankfurter Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz, der Kabarettistin ldil Baydar, der Linken-Politikerinnen Janine Wissler, Anne Helm, Martina Renner sowie der Publizistin Hengameh Yaghoobifarah. Sie verweisen darauf, dass zumindest einige der Daten der Opfer über dienstliche Zugänge auf Polizeicomputern in Frankfurt am Main und Wiesbaden aus nicht-dienstlichen Anlässen abgerufen wurden. Weitere in den Drohschreiben genutzte Daten stammten aus polizeilichen Abfragen in Hamburg und Berlin.
Gerade mit Blick auf die polizeilichen Datenabrufe müsse weiter ermittelt werden, fordern die Betroffenen. Dies gelte insbesondere für die noch offenen Ermittlungsverfahren gegen die beschuldigten Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte.
Daten telefonisch erschlichen?
Die Drohbriefe, die häufig in Form eines behördlichen Schreibens oder eines Gerichtsurteils verfasst waren, waren regelmäßig mit "Heil Hitler" unterzeichnet, sich selbst hatte der Absender "SS-Obersturmbannführer" genannt. Er habe den ausschließlich weiblichen Adressatinnen unter anderem mit Worten wie "verpiss dich lieber, solange du hier noch lebend rauskommst" gedroht oder damit, dass Familienangehörige "mit barbarischer sadistischer Härte abgeschlachtet" würden. Um seine Drohwirkung zu verstärken, soll der Beschuldigte zum Teil nicht frei zugängliche Daten der Betroffenen genannt haben.
Weil diese Daten von Computern der hessischen Polizei in Wiesbaden und Frankfurt abgerufen worden waren, richtete sich der Verdacht lange Zeit gegen die Polizei. Ein ehemaliger Polizist aus Bayern und seine Ehefrau standen zunächst im Fokus der Ermittlungen. Der Verdacht gegen sie konnte allerdings aus Sicht der Staatsanwaltschaft nicht erhärtet werden. Ihr zufolge hat sich der nun angeklagte Mann die Daten telefonisch bei der Polizei erschlichen.
Der Fall hatte auch Folgen für die hessische Polizei. Landespolizeipräsident Udo Münch trat zurück, und Innenminister Peter Beuth berief einen Sonderermittler. Zudem kündigte der CDU-Politiker eine Reform des polizeilichen Abfragesystems an. Angehende Polizisten werden darüber hinaus genauer vom Verfassungsschutz überprüft.
Quelle: ntv.de, hvo/AFP/dpa