
Muktada al-Sadr besuchte kurz nach der Parlamentswahl das Grab seines Vaters; der war ein einflussreicher schiitischer Gelehrter.
(Foto: REUTERS)
Muktada al-Sadr war ein gefürchteter Mann im Irak. Seine Miliz bombte gegen die US-amerikanischen Besatzer und terrorisierte die sunnitischen Muslime im Land. Ausgerechnet er ist jetzt ein Hoffnungsträger, der auf Versöhnung setzt.
Bagdad am 4. April 2004: Seit dem Vietnamkrieg hat die erste Kavalleriedivision der US-Streitkräfte keinen so blutigen Tag erlebt. Im Viertel Sadr-Stadt hagelt Feuer aus Panzerfäusten und Sturmgewehren auf die Männer und Frauen, Rohrbomben explodieren. Acht Soldaten sterben, 60 werden verletzt.

Blutige Zeiten im Irak. Ein Anhänger Sadrs posiert im Frühjahr 2004 vor einem brennenden Truck der US-Armee.
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Der Tag markiert den Auftakt des Aufstands schiitischer Milizen gegen die US-amerikanischen Besatzer im Irak. Und es ist kein Zufall, dass die US-Armee den höchsten Blutzoll in Sadr-Stadt zahlt. Es ist eine Hochburg des mächtigen Milizenführers Muktada al-Sadr. Der hatte dazu aufgerufen, die US-Amerikaner aus dem Land zu bomben. Und in den folgenden Jahren wird seine Mahdi-Miliz mit Unterstützung aus dem Iran tatsächlich zu einem der mächtigsten Gegenspieler der Besatzer und ihrer Partner im Irak. Und aus Sicht vieler Sunniten im Irak zu einer gefürchteten, mörderischen Kraft.
Nun hat genau dieser Muktada al-Sadr bei den Parlamentswahlen am vergangenen Wochenende triumphiert. Seine Liste "Sairun" (Wir marschieren) wurde stärkste Kraft. Was hat das zu bedeuten?
Zunächst wirkt es paradox, doch ausgerechnet Sadr wird zugetraut, was im Irak bisher niemand für möglich hielt: Er, so die Hoffnung, könnte dabei helfen, die konfessionelle Spaltung des Landes zu überwinden. Und er, auch das eine Hoffnung, könnte den Irak zumindest teilweise aus der Rolle des Spielballs der Groß- und Regionalmächte befreien.
"Korruption ist Terror"
Sadr hat in seinem Leben viele, teils wundersame Wandlungen vollzogen. Der Sieger der Parlamentswahlen kam 1973 im Irak zur Welt, als Sohn von Großayatollah Muhammad Sadiq al-Sadr, einem schiitischen Gelehrten mit Hunderttausenden Gefolgsleuten, nach dem das erwähnte Viertel in Bagdad 2003 benannt wurde. Wer Sadr angesichts seines Stammbaums, seines Widerstands gegen die US-Besatzer und diverser Anschläge auf Sunniten im Land nun als Stellvertreter des Irans einstuft, irrt aber wahrscheinlich - heute zumindest.
Nachdem Sadrs Mahdi-Armee 2008 einen Machtkampf mit der offiziellen irakischen Armee verloren hatte, setzte er sich in den Iran ab. Als er 2011 zurückkehrte, klang er nicht mehr so hetzerisch, nicht mehr so brutal. Er war viel mehr auf Ausgleich zwischen Schiiten und Sunniten aus. Mittlerweile unterhält er gar Beziehungen zum Königshaus in Saudi-Arabien, dem Erzfeind des Iran. Und er bietet sich als Vermittler an. Sadrs Agenda: Er will alle Einmischungsversuche von Kräften aus dem Ausland zurückdrängen, egal woher sie kommen. "Ich bin bereit, zwischen der Islamischen Republik und dem Königreich Saudi-Arabien zu moderieren und einige Probleme zu lösen", sagte er im Wahlkampf. "Mir geht es dabei nur um das Wohl des Iraks und der Region." Aus dem religiösen Scharfmacher, so heißt es nun, ist ein Nationalist geworden. Und ein Populist.
Sein Erfolg ist auch dem Protest der Bevölkerung gegen die herrschende politische Klasse geschuldet. Der Verdruss angesichts der korrupten Eliten im Irak ist gewaltig. Die Wahlbeteiligung war auch deshalb mit knapp 45 Prozent so niedrig wie seit dem Sturz von Machthaber Saddam Hussein nicht mehr. Viele der Menschen, die trotz Wut im Bauch wählen gingen, stimmten für Sadr. Denn der setzte sich geschickt als Wortführer einer Gegenbewegung in Szene, als gerechte Stimme des einfachen Mannes.
2015 schmiedete Sadr die wohl unwahrscheinlichste Allianz, die es im Irak je gegeben hat. Er tat sich zusammen mit den Kommunisten, sunnitischen Geschäftsleuten, säkularen und liberalen Bürgerrechtsgruppen. Er setzte sich mit dem Slogan "Korruption ist Terror" an die Spitze eines Aufstands gegen die Vetternwirtschaft der Eliten in Bagdad.
Sadr fordert, das im Irak übliche Proporzsystem in der Politik aufzulösen. Er setzt auf eine Technokraten-Regierung und er pocht auf Rechtsstaatlichkeit. Über die Eignung für einen Posten soll künftig nur noch die Qualifikation entscheiden, nicht mehr, ob jemand Schiit, Sunnit, Christ, Araber oder Kurde ist. Damit trifft er die Stimmung vieler Iraker. Der selbsternannte Islamische Staat (IS) ist militärisch weitgehend geschlagen. Auch wenn mitunter unklar ist, wer nun in den einst besetzten Gebieten das Sagen hat, wirkt noch das Gefühl nach, dass es nur durch eine gemeinsame Anstrengung von Schiiten, Sunniten und Kurden gelungen ist, die Terrormiliz zu besiegen. Wird nun also Sadr der neue Premier?
Iran und USA senden hochrangige Vertreter
Obwohl Sadr der Mann der Stunde ist, wird er nicht der nächste Regierungschef. Sadr ließ sich nicht offiziell als Kandidat für einen Sitz im Parlament aufstellen. Doch er muss nun zu den einflussreichsten Strippenziehern des Landes gezählt werden und dürfte maßgeblich mitbestimmen, wer den Posten am Ende besetzt.
Als Favorit seiner "Sairun"-Liste gilt einem Bericht des Magazins "Foreign Policy" zufolge Ali Dawai Lazem, der Bürgermeister von Maysan. Der schaffte, was in der verarmten Provinz kaum einer für möglich gehalten hätte. Seit seinem Amtsantritt gibt es dort mehr Stunden Strom am Tag als in der Hauptstadt Bagdad. Er ist zu einer Kultfigur avanciert. Doch auch er ist keineswegs gesetzt. Sadrs Liste kann den Premier nicht allein wählen. Zwar ist "Sairun" stärkste Kraft, mit 54 von 329 Sitzen im Parlament aber nicht annähernd stark genug, um alleine zu regieren.
Anfang der Woche ließ Sadr in einem poetischen Tweet durchblicken, mit wem er sich eine Zusammenarbeit vorstellen kann. Er vermischte seine politischen Ziele darin mit den Namen politischer Kräfte im Lande. Dass er kein radikaler Vertreter schiitischer Interessen in der Region sein will, machte er vor allem durch eines deutlich: Die zweitstärkste Kraft im Lande, die Liste von Hadi al-Ameri, kommt darin nicht vor. Ameri gilt als Vasall des Irans in Bagdad.
In Teheran, aber auch in Washington reagierten die Regierungen zunächst mit einer gewissen Zurückhaltung auf den Triumph Sadrs, obwohl das Interesse am Schicksal des Landes immens ist. Noch bevor das Endergebnis veröffentlicht wurde, schickten Iran und die die USA hochrangige Vertreter nach Bagdad, den Kommandeur der iranischen Al-Quds-Brigaden, Qassem Suleimani, und den Sonderbeauftragten für den Anti-IS-Einsatz Brett McGurk. Einem Sprecher Sadrs zufolge suchten beide aber nicht das Gespräch mit Sadr.
Quelle: ntv.de