Arbeiter legen Argentinien lahm Der Widerstand gegen Milei formiert sich


Vor dem Kongress in Buenos Aires sollen Zehn- oder gar Hunderttausende protestiert haben.
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Preisexplosion, Generalstreik, legales Gegenfeuer: Argentiniens libertärer Präsident Javier Milei hat es in seinen ersten Wochen nicht leicht. Nun zeigen sich die Arbeiterschaft und Opposition geschlossen auf der Straße. Ein Gewerkschaftschef warnt den Wirtschaftsminister.
Am liebsten alles aus den vergangenen Jahrzehnten abreißen, dann mal sehen, was der freie Markt mit dem Schutt so anstellt, während er mit dem präsidentiellen Zepter ab und zu Dekrete absegnet. So ungefähr stellt sich Argentiniens libertärer Staatschef Javier Milei seinen Äußerungen und Reformprojekten zufolge seine vierjährige Amtszeit vor. Doch dagegen formiert sich heftiger Widerstand. Am Mittwoch legte ein Generalstreik weite Teile des öffentlichen Lebens lahm. Landesweit demonstrierten zudem Menschen, die Angaben reichen von 40.000 bis 600.000 in der Hauptstadt Buenos Aires und insgesamt bis zu 1,5 Millionen in ganz Argentinien.
Stundenlang waren Mitglieder sozialer Bewegungen, der Opposition, des Gewerkschaftsbundes CGT und aufgebrachte Argentinier in Richtung des Kongresses im Herzen der Hauptstadt gezogen. Bei der dortigen Kundgebung zeigten sich Mileis Gegner kämpferisch. "Wir werden keinen Schritt zurückgehen", sagte etwa Héctor Daer, einer der CGT-Vorsitzenden: "Das Vaterland steht nicht zum Verkauf."

Kundgebung gegen Mileis Reformen im Zentrum der Hauptstadt. Auch andernorts gingen die Menschen auf die Straßen.
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Der Chef der einflussreichen Fernfahrergewerkschaft, Pablo Moyano, warnte Wirtschaftsminister Luis Caputo. "Falls der Minister die Maßnahmen des Hungers, Streichungen und Kündigungen durchführt, werden ihn die Arbeiter und Rentner in den Riachuelo werfen." Der Flussabschnitt, der auch durch das Arbeiterviertel La Boca fließt, war in der Vergangenheit einer der meist verschmutzten Flüsse des südamerikanischen Kontinents. Viele Anwohner entsorgten aus mangelnden Alternativen dort ihren Müll.
Milei will mit seinen beiden großen Projekten, einem Mega-Dekret mit über 300 Gesetzesänderungen sowie einem weiteren Paket namens "Omnibus-Gesetz", das weitere Hunderte Modifikationen beinhaltet, das Land auf rechtsliberal drehen. Der Kongress soll sich wegen eines "öffentlichen Notstands" für mindestens ein Jahr selbst entmachten und es dem Präsidenten überlassen, per Dekret zu regieren. Auch die Privatisierung fast sämtlicher Staatsunternehmen wie der Eisenbahn oder dem Glasfasernetz stehen auf dem Programm.
Erste Muskelspiele der Straße
Mit den ersten Muskelspielen auf den Straßen des Landes spitzt sich ein Konflikt zu, der abzusehen war. Mileis Behauptung im Wahlkampf, "die Kaste" aus Politikern und Unternehmen würde dafür zahlen, den Staatshaushalt auf eine schwarze Null zu trimmen, war nahezu abenteuerlich. Schon kurz nach seinem Wahlsieg warnte Milei plötzlich, die Argentinier müssten sich auf ein hartes erstes Jahr einstellen. "Nicht ein Vorschlag, um die Armut zu bekämpfen. Wenn nichts auf dem Tisch steht, gibt es keine Freiheit", war auf einem der Banner der sozialen Bewegungen aus den unteren Einkommensschichten zu lesen.
Die Armutsrate in Argentinien liegt inzwischen bei 45 Prozent, Tendenz steigend. Die Inflation schoss in Mileis erstem Monat um 25,5 Prozent in die Höhe, was zum Teil absurde Ausmaße annimmt: Ein (in Argentinien produzierter) halber Liter Olivenöl kostete in Supermärkten Anfang des Jahres bis zu 12 Euro, ein gehobener Rotwein aus derselben Region aber nur die Hälfte. Der Benzinpreis verdoppelte sich nahezu. Die zweitgrößte Volkswirtschaft Südamerikas hat viele Beschäftigte im öffentlichen Sektor, die einheimische Industrie hat geringe Produktivität und Schwarzarbeit ist weitverbreitet.
Die technologisierte und deshalb international konkurrenzfähige Landwirtschaft ist zugleich hochprofitabel - der Staat erhebt zur Haushaltsfinanzierung Ausfuhrzölle auf die Weltmarkt-Exporteinnahmen in US-Dollar -, aber schafft vergleichsweise wenige Arbeitsplätze. Die Landeswährung Peso verliert gegenüber dem US-Dollar immer weiter an Wert, der Schuldenberg wächst ständig.
"Das ist Missbrauch"
Das Mega-Dekret ist in großen Teilen bereits in Kraft. "Das ist Missbrauch eines Werkzeugs", sagt dazu Andrés Gil Dominguez, Professor für Verfassungsrecht an den Universitäten von Buenos Aires und La Pampa. Es gebe keine plötzliche Notsituation und der Kongress sei funktionstüchtig. "In der Logik ihrer bisherigen Urteile hat das Oberste Gericht keine Wahl, als das Dekret für verfassungswidrig zu erklären." Bislang gebe es 52 entsprechende Klagen, die erste davon werde ab 1. Februar verhandelt. Bis zu einem Urteil kann es jedoch Monate dauern und hechelt damit der Realität hinterher. Das Mietergesetz etwa ist durch das Dekret abgeschafft, die Verträge sind komplett Verhandlungssache.
Sicherheitsministerin Patricia Bullrich bezeichnete die Gewerkschafter als "mafiös". Sie würden sich dem Wandel widersetzen, den die Gesellschaft demokratisch beschlossen habe. "Kein Streik kann uns aufhalten, keine Drohung kann uns einschüchtern", sagte sie. Dabei ist es Bullrich, die seit Mileis Amtsantritt versucht, mit neuen Regelungen sowie Drohungen gegen soziale Bewegungen und Gewerkschaften den Widerstand von der Straße fernzuhalten. Nach den ersten Demonstrationen gegen den neuen Kurs schickte die Regierung an die beteiligen Organisationen Rechnungen über die Kosten der Polizeieinsätze. Demonstranten, die sich statt auf den Bürgersteigen auf den Straßen bewegen, werden Haftstrafen angedroht.
Das umstrittene Reformpaket samt Selbstentmachtung des Parlaments, das auf einem angeblichen öffentlichen Notstand fußt, soll am 25. Januar im Kongress behandelt werden. Mileis Partei La Libertad Avanza ("Die Freiheit schreitet voran") hat in keiner der beiden Kammern eine Mehrheit, sie muss also verhandeln. Der ursprüngliche Gesetzentwurf wurde in den vergangenen Tagen massiv überarbeitet. Der Streik fand trotzdem statt. Die öffentliche Verwaltung war eingeschränkt, auch das öffentliche Gesundheitswesen stellte zum Teil die Arbeit ein. Die staatliche Fluglinie Aerolíneas Argentinas strich sämtliche Flüge über die Hauptstadt; das Drehkreuz des Landes und von Bedeutung im kontinentalen Luftverkehr. Banken schlossen ab mittags, der öffentliche Nahverkehr sowie sämtliche Züge des Landes standen bis Mitternacht still.
Organisationen laufen sich warm
Der letzte Streik des Gewerkschaftsbundes hatte im Mai 2019 stattgefunden, damals noch unter dem liberal-bürgerlichen Präsidenten Mauricio Macri. Er wurde ein halbes Jahr danach abgewählt, der sozial orientierte peronistische Präsident Alberto Fernández kam an die Macht. Unter ihm verhielten sich die Gewerkschaften ruhig, die Dinge wurden hinter verschlossenen Türen verhandelt. Doch Milei will die mächtigen Arbeitervertretungen entmachten, um das Arbeitsrecht zu liberalisieren. Einzelne Vorhaben hat die argentinische Justiz bereits einkassiert, etwa ein Fast-Streikverbot für bestimmte Sektoren, Versammlungsverbote am Arbeitsplatz oder das Ende der Pflichtbeiträge an Gewerkschaften. "Die Artikel des Omnibus-Gesetzes formulieren die ganze sozialökonomische Ordnung um, die in der Verfassung vorgesehen ist", sagt Dominguez.
Argentinien ist ein streiklustiges Land, über die Straße wurde in der Vergangenheit viel politischer Druck ausgeübt. Doch mit der Pandemie schliefen die üblichen Mechanismen teilweise ein. Nun laufen sich die Organisationen wieder warm; kein Präsident schaffte es nach Amtsantritt schneller, die Gewerkschaften zum Generalstreik auf die Straße zu treiben. "Mit den steigenden Preisen des Treibstoffs und der Lebensmittel wird sich der soziale Konflikt vertiefen", meint Pablo Moyano, Chef der einflussreichen Fernfahrergewerkschaft. Und der Widerstand gegen Milei aller Voraussicht nach wachsen, sollte sich die Alltagssituation der Argentinier nicht verbessern.
Quelle: ntv.de