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"Bombenteppich" auf Argentinien Milei will Kongress für mindestens zwei Jahre entmachten

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Im vertrauten Gespräch: Vizepräsidentin Victoria Villarruel und Javier Milei.

Im vertrauten Gespräch: Vizepräsidentin Victoria Villarruel und Javier Milei.

(Foto: AP)

Argentiniens "Reißt-alles-nieder"-Präsident Milei hat in Rekordzeit große Teile des Landes gegen sich aufgebracht. Seine Schocktherapie stößt auf Widerstand, die Preise explodieren und es naht ein Generalstreik. Jetzt will der Staatschef auch noch weitgehende Sonderbefugnisse vom Kongress.

Wenn Javier Milei etwas kann, ist es poltern. "Wir werden überhaupt nichts verhandeln", blockte Argentiniens Präsident am Wochenende pro forma jegliche Änderungswünsche an seinen epochalen Reformplänen ab. Der Gewerkschaftsbund CGT ist ohnehin schon auf Kriegsfuß und hat einen nationalen Generalstreik angekündigt - 6,5 Millionen Arbeiter sind über ihn organisiert. Der Kongress arbeitet durch, statt seine übliche parlamentarische Sommerpause einzulegen. Angesichts von verschiedenen juristischen Initiativen gegen Mileis Maßnahmen verzichten auch verschiedene Gerichte auf Urlaub. Und währenddessen explodieren die Verbraucherpreise inklusive Lebensmittel und Mieten.

Es geht zum einen um das Mega-Dekret, das mehr als 300 Gesetze abschafft oder ändert. Dagegen gingen kurz vor Heiligabend bereits Zehntausende Menschen im ganzen Land auf die Straße. Das Dekret ist in Kraft, weil beide Kongresskammern es ablehnen müssten, um es zu Fall zu bringen. Mit dem Titel "Mi ley", "mein Gesetz", verspottete die oppositionell orientierte Zeitung "Pagina/12" den frischen Staatschef mit fotomontierter Königskrone, nachdem dieser die Neuregelungen per nationaler Fernsehansprache und langem rhetorischen Vorlauf verkündet hatte.

Der CGT hat den arbeitsrechtlichen Teil vor Gericht vorerst gestoppt. Milei wollte das Streikrecht stark einschränken, den Gewerkschaften die Finanzierung erschweren; die Probezeit neuer Beschäftigter von 3 auf 8 Monate erhöhen und Abfindungen bei grundlosen Kündigungen abschaffen. Nicht nur der arbeitsrechtliche Teil ist juristisch fragwürdig. Bis zum Wochenende gingen bei Argentiniens Gerichten 46 Verfassungsbeschwerden gegen das Dekret ein.

Viel Macht für Milei

Als viele Argentinier schon in den Sommerurlaub gefahren waren, kam ein möglicher, ja, legaler Staatsstreich hinterher. Nicht wenigen treibt dieser seit Jahresbeginn den Angstschweiß auf die Stirn: das sogenannte "Omnibus-Gesetz" samt 664 (!) Veränderungen. Dessen Anfang hat äußerste politische Sprengkraft.

Milei fordert in seinem Paket den Kongress auf, sich selbst für mindestens zwei Jahre zu entmachten und stattdessen ihm das Recht einzuräumen, per Dekret zu regieren. Der Grund ist demnach ein "öffentlicher Notstand" in sämtlichen Gesellschaftsbereichen, der im Gesetzesprojekt erklärt wird. Ende 2025 will Milei dann selbst entscheiden dürfen, ob er auch bis zum Ende seines Mandats so verfahren möchte.

Oppositionelle sehen ihre Warnungen bestätigt, der Libertäre und dessen Allianz mit dem Militär, in Person von Vizepräsidentin Victoria Villarruel, seien eine Gefahr für die Demokratie. Ein höchst umstrittener Artikel im "Omnibus"-Paket verstärkt diese Angst: Jegliche Menschengruppen (schon ab drei Personen) im öffentlichen Raum müssen demnach als Demonstration dem Sicherheitsministerium gemeldet werden. Wer den Verkehr behindert, soll zur Strafe ein bis dreieinhalb Jahre im Gefängnis verbringen, die "Organisatoren oder Koordinatoren" sogar zwei bis fünf Jahre.

"Milei Verräter" ("Mi ley traidor") ist in Bezug auf das Mega-Dekret auf einem Graffito in Buenos Aires zu lesen. Im Wahlkampf hatte er versprochen, die Kosten der Reformen würde "die Kaste" aus Politikern und Unternehmern zahlen.

"Milei Verräter" ("Mi ley traidor") ist in Bezug auf das Mega-Dekret auf einem Graffito in Buenos Aires zu lesen. Im Wahlkampf hatte er versprochen, die Kosten der Reformen würde "die Kaste" aus Politikern und Unternehmern zahlen.

(Foto: AP)

Es ist nicht unüblich, dass neue Präsidenten in Argentinien versuchen, in den ersten Monaten so schnell wie möglich ihre Kernvorhaben durchzubringen. Trotz Mileis kategorischer Ablehnung finden hinter den Kulissen Gespräche über kleinere Zugeständnisse statt. Sie werden nur nicht so genannt. Milei hat keine eigene Mehrheit, er muss sich die Unterstützung auch ein Stück weit im Amt erarbeiten. Angesichts des Umfangs seiner Vorhaben und den ersten Folgen seiner Politik ist das schwierig.

Die neue Regierung wertete den argentinischen Peso zunächst um mehr als 50 Prozent ab. Menschen haben in Mileis erstem Amtsmonat im Schnitt etwa 15 Prozent ihrer Kaufkraft verloren, schätzen Analysten. Dabei sind bereits angekündigte Preiserhöhungen für Energie und den öffentlichen Nahverkehr noch gar nicht vollzogen. In der gesamten Amtszeit des Vorgängers Alberto Fernández verloren die Argentinier 8 Prozent ihrer Kaufkraft.

Mammutaufgabe und Mobilisierung

Je länger das Jahr dauert, desto deutlicher werden die Veränderungen sichtbar werden. Die öffentlichen Universitäten warnten bereits, wegen Mileis Haushaltskürzungen werde ihnen in wenigen Monaten das Geld ausgehen. Etwa 80 Prozent der Studenten in Argentinien besuchen beitragsfreie öffentliche Hochschulen. Und wegen des Streichens öffentlicher Bauprojekte sowie möglicher Kündigungswellen dürfte noch viel mehr auf die Argentinier zukommen.

Milei stößt bereits nach wenigen Wochen auf erheblichen Widerstand. Dagegen, wie er sich die zukünftige Gesellschaft und Wirtschaft seines Landes vorstellt: wenig Staat, maximale Privatinitiative. Mit seiner Schocktherapie für den Arbeitsmarkt, einem deregulatorischen Bombenteppich und Privatisierung von Staatsunternehmen - egal, ob es Gewinn macht und zukunftsorientiert ist wie der Energieriese YPF, ein Verlustgeschäft bedeutet wie die Eisenbahn, oder wie das Glasfasernetz strategisch praktisch unersetzlich ist.

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Am heutigen Dienstag beginnen im Kongress die Beratungen zum "Ley Omnibus", das Mileis Regierung die jahrelangen Sonderrechte verleihen soll, die sie einfacher verteidigen können, wenn sie soziale Proteste kriminalisieren können. Zunächst beraten die thematischen Ausschüsse, dann kommt es zur Debatte und Abstimmungen in den Kammern; erst über das Gesamtprojekt, dann über die einzelnen Artikel. Eine legislative - und möglicherweise juristische - Mammutaufgabe stehen der Abgeordnetenkammer und dem Senat bevor.

Milei hatte nach seinem Wahlsieg offen gesagt, es stehe ein hartes Jahr bevor, erst dann könne es wieder bergauf gehen. Doch die Straße schläft angesichts des historischen Ausmaßes der angestoßenen Veränderungen nicht. Am 24. Januar, wenn Milei rund sechs Wochen im Amt gewesen sein wird, werden Millionen Gewerkschaftler ihre Arbeit im Rahmen eines Generalstreiks niederlegen. Das ist Rekord. So schnell hat noch kein Präsident Argentiniens die Arbeiterschaft gegen sich aufgebracht.

Quelle: ntv.de

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