Politik

Die verborgene Macht Deutschlands größte Wählergruppe fühlt sich ignoriert

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Jürgen Fischer will einen Inflationsausgleich für Rentnerinnen und Rentner.

Jürgen Fischer will einen Inflationsausgleich für Rentnerinnen und Rentner.

Senioren sind die größte Wählergruppe in Deutschland. Dennoch sehen viele ihre Interessen nicht vertreten. Ein Ausflug dahin, wo die Rentner wohnen.

"Wir waren immer sparsam", sagt die Frau mit dem silbernen Haar und dem grauen Pullover. Sie und ihr Mann hätten schließlich den Krieg erlebt. Als Kind flüchtete sie in den Norden Deutschlands: Stockelsdorf, Ostholstein. Die beiden gründeten hier eine Familie, sie arbeitete als Verkäuferin, er baute Eichenfässer. "Gibt es heute nicht mehr, den Beruf", sagt er. Heute leben sie in einer Wohnanlage mit Notruf: Im Bad und Schlafzimmer hängen Kordeln von der Decke - ein Zug und die Zentrale meldet sich. Im Notfall kommt der Rettungsdienst. Die beiden über 80-Jährigen erzählen bereitwillig von sich, ihre Namen wollen sie aber nicht veröffentlicht sehen.

Sie kämen zurecht, sagt die Frau, aber im Supermarkt achte sie schon auf die Angebote. Das liegt in ihren Augen auch an politischen Entscheidungen. Sie schält sich aus der Versenkung ihres cremefarbenen Ledersofas und hebt die Hände zur Decke: "Was bringen mir 5 Euro mehr Pflegeleistung, wenn die Pflege 50 Euro teurer wird?" Ihr Mann steht an einen wuchtigen Ohrensessel gelehnt, trippelt leicht hin und her, als er fragt: "Wissen Sie, was die kosten?" Er zeigt auf zwei Medikamentenschachteln in seiner linken Hand - Spritzen für die geschädigten Nieren seiner Frau.

Die beiden Rentner gehören zur stillen Macht Deutschlands: Die größte Wählergruppe sind Seniorinnen und Senioren. Zwischen einem Viertel und einem Fünftel aller Wahlberechtigten bei der anstehenden Bundestagswahl dürfte mindestens 70 Jahre alt sein, schätzt das Statistische Bundesamt. Die 60- bis 69-Jährigen stellen demnach mehr als ein Sechstel des Wahlvolks. Insgesamt sind 25 Millionen Wahlberechtigte mehr als 60 Jahre alt. Das sind mehr als viermal so viele wie die unter 30-Jährigen mit 8 Millionen.

Verschlissene Tapeten und abgetragene Teppichböden

Eine logische Folge dieses demografischen Ungleichgewichts wäre: Wer stabile Renten zusagt, gewinnt Wahlen. Investitionen in Bildung? Ein weniger attraktives Wahlversprechen. Weil keine Partei es sich leisten kann, die Rentnerinnen und Rentner zu ignorieren. Besonders viele von ihnen leben in Ostholstein - fast jeder Dritte dort ist mehr als 65 Jahre alt, nirgendwo in Westdeutschland sind es mehr. Einer von ihnen ist Jürgen Fischer. Ihn beruhigt die zahlenmäßige Überlegenheit älterer Menschen nicht - im Gegenteil.

Der 70-Jährige steht an diesem Dienstagnachmittag vor dem kleinen, elektrischen Renault der Lübbers-Apotheke. Fischer trägt weißen Seitenscheitel, grauen Schnurrbart und lila Warnweste. Er ist Seniorenbeirat in Stockelsdorf, einem 17.000-Einwohner-Vorort Lübecks. Rot geklinkerte Häuser, die Vorgärten gepflegt, die Straßen sauber. Fischer fährt nebenbei für die Apotheke Medikamente aus und kommt so in die Wohnungen vieler alter Menschen: Er erzählt von verschlissenen Tapeten und kaum noch vorhandenen Teppichböden. Erst gestern habe eine Frau ihm zwei Pfanddosen mitgeben wollen, weil ihr 50 Cent für ein Medikament fehlten.

Als armutsgefärdet gilt, wer ...

... weniger als 1380 Euro im Monat zur Verfügung hat. Hier zählen Einkommen aus:

  • Arbeit
  • Vermögen
  • Renten oder Pensionen
  • Sozialleistungen

Abgezogen werden:

  • direkte Steuern
  • Sozialabgaben

Die Wohnsituation bleibt unberücksichtigt. Ältere Menschen leben überdurchschnittlich oft im eigenen Haus oder in der eigenen Wohnung.

2024 galt in Deutschland fast jeder Fünfte über 65-Jährige als armutsgefährdet: 3,5 Millionen Seniorinnen und Senioren hatten laut Statistischem Bundesamt weniger als 1380 Euro im Monat zur Verfügung. Wie kann das sein, wenn diese Altersgruppe an der Wahlurne dominiert? Wenn sie auf dem Papier solch eine politische Macht darstellt?

"Keine Fürsprecher, keine Lobby"

Der Politikwissenschaftler Emanuel Richter von der Technischen Hochschule Aachen sagt, gerade ärmere Rentnerinnen und Rentner hätten keine Lobby. "Nicht nur, dass sie selbst keine Zeit haben, sich zu engagieren, weil sie schauen müssen, wie sie über die Runden kommen", sagt er ntv.de: "Sie haben keine Fürsprecher, werden auch im parteipolitischen Spektrum kaum wahrgenommen."

Vielleicht auch deshalb, weil sie keine volatile Wählergruppe darstellt, die leicht abzuwerben ist. Ältere Menschen wählten noch immer bevorzugt etablierte Parteien wie Union und SPD, in Abstufungen noch FDP, sagt Richter. Weniger die Grünen, "obwohl sich das gerade ein bisschen dreht", sagt Richter. Der Zuspruch zu rechtspopulistischen Parteien wie der AfD aber sei eher unterdurchschnittlich.

Selbst von der Linken oder dem Bündnis Sahra Wagenknecht würden Altersarmut oder das Rententhema nicht besonders thematisiert. Diese Parteien fühlten sich eher allgemein "aufgrund ihrer linken Tradition der sozialen Gleichheitsfrage verpflichtet".

"Satt vom Leben"

Der Stockelsdorfer Seniorenbeirat Fischer will Anwalt der Älteren sein, aber: "Viele alte Leute sind satt", sagt er am Steuer des Elektroautos und biegt ein in die Krempelsdorfer Allee. "Nicht vom Geld, aber vom Leben." Für Fischers These könnte die im Alter sinkende Wahlbeteiligung sprechen.

Die niedrigste Wahlbeteiligung haben Menschen unter 20 Jahren: 70,5 Prozent von ihnen gaben bei der Bundestagswahl 2021 ihre Stimme ab. Der Wert ist mit gut 80 Prozent am höchsten bei den 50- bis 59-Jährigen und den 60- bis 69-Jährigen. Mit höherem Alter aber sinkt die Wahlbeteiligung wieder: auf 75,3 Prozent bei Menschen über 70 Jahren. Richter schätzt, gerade unter ärmeren Rentnerinnen und Rentnern gebe es viele Nichtwähler, die sich enttäuscht zurückzögen.

Fischer zieht sich nicht zurück. Er ist umtriebig, ein Macher, immer schon. Er strahlt, wenn er erzählt, von den Demos, die er auf die Beine gestellt hat. Erst in Stockelsdorf und dann in Berlin. 2000 Rentner, die seinem Ruf in die Hauptstadt folgten. Vor dem Brandenburger Tor verlangten sie einen Inflationsausgleich. Dort auf der Bühne zu stehen - "ein Gänsehautgefühl", schwärmt Fischer. Man sollte eine Partei gründen: "Aber wer lässt sich als 65-Jähriger noch aufstellen?"

"Wir Rentner halten den Mund"

Sein Dilemma wird deutlich, als er fünf Minuten später seine Begeisterung teilen will - mit einem Mann, dem er Medikamente liefert. Der Mann wohnt in einer Seitenstraße - hohe Hecken, Garagen neben Einfamilienhäusern. Auf der Papiertüte mit dem Logo der Lübbers-Apotheke klebt ein Hinweis: "Ordentlich an der Schiffsglocke klingeln." Fischer lässt den Klöppel kräftig tanzen in der ananasgroßen Glocke, die neben dem Gartentor hängt. Das rostige Metall tönt hell. Und tatsächlich tritt ein Mann in weißer Wollweste aus dem etwa 20 Meter entfernten Backsteinhaus. Am akkurat gestutzten Rasen entlang schlurft er zum Tor.

Der ehemalige Pipeline-Ingenieur ist offensichtlich nicht armutsgefährdet, aber dennoch sieht er seine Belange als älterer Mensch ignoriert: Früher sei so ein Haus eine Wertanlage gewesen, sagt er. Die Ampelregierung aber habe Energiepolitik gegen die Alten gemacht: "Wenn ich es verkaufe, bekomme ich nichts mehr für dieses Haus, weil man erst mal alles Mögliche sanieren müsste", sagt der Mann mit Blick auf das als Heizungsgesetz bekannte Gebäudeenergiegesetz.

Auch mit der Pflegeversicherung ist der Mann unzufrieden: Beamte und Selbstständige sollen einzahlen, findet der Ex-Ingenieur, die gesamte private Versicherung soll abgeschafft werden. "Wir Rentner sind die größte Gruppe, aber wir halten den Mund. Wir gehen nicht auf die Straße", sagt er bitter.

Fischer atmet tief ein, das ist sein Einsatz, eilig referiert er: Kampf für den Inflationsausgleich, für die "Rente der Zukunft", dafür, dass auch Beamte einzahlen ins System; Unterschriftensammlungen, Bündnis mit Verdi und dem Deutschen Gewerkschaftsbund, Demo in Berlin. Sein Sohn sei selbst Beamter; frage: "Papa, weißt du, was du da forderst?"

Aber Fischers Gegenüber scheint nicht beeindruckt. Streng schaut der Mann durch seine Brille: "Und was hat das gebracht?" Fischer wird leiser, verteidigt das Erreichte, wirbt für die Bundestagswahl, aber der Elan ist dahin.

"Dann lieber zehn Jahre weniger"

Seniorinnen und Senioren mögen die größte Wählergruppe sein, aber sie bildet keinen monolithischen Block. Erst recht keinen leicht zu mobilisierenden Block. Von einer "zähen Masse" spricht Fischer. Immerhin: Politikwissenschaftler Richter sieht ein "zunehmendes protestförmiges Engagement älterer Menschen". Für die Demokratie sei es ein Fortschritt, "dass diese Leute in ihrer Altersphase mehr Zeit haben, nachzudenken, sich politisch zu betätigen, ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen, indem sie sich Protestbewegungen anschließen". Beispiele seien die für eine Klimawende kämpfenden "Grandparents for Future" oder die demokratie-aktivistischen "Omas gegen Rechts".

Diese Gruppen seien aber nicht die Lobby der ärmeren Rentnerinnen und Rentner. "Es gibt ein paar engagierte Senioren, die haben aber meistens diese materiellen Probleme nicht", sagt Richter. Spielen diese materiellen Probleme älterer Menschen im aktuellen Wahlkampf eine Rolle? Richter findet: "So gut wie gar nicht." Es gehe um Steuerreduzierung, Digitalisierung und Bürokratieabbau. Denen, die ihr Leben lang prekär gearbeitet haben, helfe das nicht.

Die Frau mit den geschädigten Nieren erzählt, sie habe das Gefühl, ihre Zeit sei abgelaufen. "Das ist das Alter", sei alles, was der Arzt ihr sage. Vor Kurzem habe sie wegen gesundheitlicher Probleme ein paar Wochen betreut gewohnt. Unheimlich teuer sei das gewesen. Momentan kämen sie gut zurecht. Dann schaut sie auf, blickt Fischer in die Augen: "Wenn ich nur noch zur Last falle, dann lieber zehn Jahre weniger."

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen