Wie der AfD entgegnen? "Die Brandmauer bröckelt jeden Tag mehr"
27.12.2024, 13:38 Uhr Artikel anhören
"Wenn auf so eine beeindruckende Mobilisierung gar nicht reagiert wird, führt das in der Zivilgesellschaft zu einer politischen Depression", so Kiess.
(Foto: picture alliance / Rainer Keuenhof)
Anfang des Jahres gingen Hunderttausende gegen die AfD auf die Straße - "aber nüchtern betrachtet folgte auf diese Massenproteste nichts", sagt Johannes Kiess im Gespräch mit ntv.de. Dennoch könne man daraus Lehren ziehen. Ob die AfD ihren Höhenflug 2025 fortsetzen kann, hänge maßgeblich von den übrigen Parteien ab, so der Rechtsextremismus-Experte von der Universität Leipzig.
ntv.de: Für die AfD war 2024 ein erfolgreiches Jahr. Zunächst erzielte die Partei Zugewinne bei der Europawahl, bei den Landtagswahlen im Osten wurde sie stärkste oder zweitstärkste Kraft. Ist die AfD endgültig im Mainstream angekommen?
Johannes Kiess: Es gibt auf jeden Fall eine Normalisierung. Die AfD wird in den ostdeutschen Bundesländern als Teil des etablierten politischen Systems wahrgenommen. Zu den Wählerinnen und Wählern gehört eine Krankenschwester ebenso wie ein Unternehmer. Das sind keine Menschen, die am gesellschaftlichen Rand stehen. Genau das zeigen unsere Studien: Rechtsextreme Einstellungen sind in der gesamten Gesellschaft verbreitet.
Sie sind Mitherausgeber der Leipziger Autoritarismus-Studie. Demnach stimmen auch in Westdeutschland inzwischen immer mehr Menschen rassistischen und antisemitischen Aussagen zu. Ist das ein Resultat dieser Normalisierung?
Die Normalisierung der AfD ist gekoppelt an eine Normalisierung bestimmter Ansichten und Positionen: Ressentiments gegen Geflüchtete und andere Gruppen, die als fremd, randständig oder schwach wahrgenommen werden. Auf diese Menschen werden Aggressionen projiziert und abgeladen. Wenn die Politik es nicht schafft, in krisenhaften Zeiten für ausreichend Stabilität zu sorgen, werden solche Angebote der extremen Rechten attraktiver, jedenfalls für schwache Persönlichkeiten.
Nun strebt die AfD eine Auflösung ihrer als gesichert rechtsextrem eingestuften Jugendorganisation Junge Alternative an. Will die Partei dadurch gemäßigter auftreten?
Die AfD möchte diese Leute vor allem besser schützen, indem man sie zum Teil der Partei macht. Der Verein Junge Alternative kann durch eine Verfügung des Bundesinnenministeriums relativ einfach verboten werden, mit einer Parteieingliederung bräuchte es dafür ein Parteiverbotsverfahren - das ist ja nochmal eine ganz andere Diskussion. Auch die Auflösung des Flügels war eher ein Aufgehen in der Partei. Der Einfluss des Thüringer Landeschefs Björn Höcke ist nach wie vor groß. Zwar hält er sich ein Stück weit zurück, kandidierte auf dem Bundesparteitag in Essen etwa nicht zum Bundesvorsitzenden. Das muss er aber auch gar nicht, um den Kurs der AfD mitzubestimmen.
Zur Strategie der AfD und ihrer neurechten Vordenker gehört es, in gesellschaftlichen Debatten den Ton angeben zu wollen und den Diskurs damit nach rechts zu verschieben. Gelingt das?
In Debatten um Migration und Asyl ist die AfD sehr erfolgreich darin, andere Parteien dazu zu verleiten, AfD-Positionen zumindest teilweise zu übernehmen. Das sehen wir bei CDU und FDP, aber auch bei der SPD und manchmal bei den Grünen. Und das verschiebt den Gesamtdiskurs weiter nach rechts, so wie es die Vordenker der Neuen Rechten anstreben. Gleichzeitig macht es die AfD zum "normalen" Bestandteil des politischen Systems, da viele ihr Angebot nicht mehr als extrem empfinden. Das ist ihr Erfolgsgeheimnis.
Inwiefern?
In der Politikwissenschaft spricht man von einem Issue Owner, wenn eine Partei ein Thema glaubhaft besetzt. Wenn den Menschen nach einem Atomunfall in Japan das Thema Atomausstieg wichtiger wird, dann ist das gut für die Grünen, weil sie dieses Thema besetzen können. Und wenn Migration und Asyl zum heiß diskutierten Thema werden, dann wird die AfD attraktiver. Deren Positionen sind als sehr hart in der Bevölkerung anerkannt. Das wirkt glaubhafter, als wenn andere Parteien AfD-Positionen nachplappern. Es ist aber eine Illusion, dass man Menschen, die jetzt AfD wählen, zurückholt, indem man AfD-Positionen übernimmt.
Was hat diese Übernahme von Positionen zur Folge?
Das führt dazu, dass die Grenze zwischen einer demokratischen Partei wie der CDU und einer antidemokratischen, klar extremistischen Partei wie der AfD verschwimmt. Dann stellt sich die Frage: Warum arbeitet man nicht zusammen, im Stadtrat, im Kreistag und vielleicht irgendwann auch im Landtag? Diese Brandmauer, das kann ich aus Sachsen berichten, bröckelt jeden Tag ein Stückchen mehr. Die Mehrheitsverhältnisse sind schwierig geworden und wenn die ideologischen Gräben gar nicht mehr so groß erscheinen, ist eine Zusammenarbeit lukrativ. Darauf läuft es derzeit immer weiter hinaus.
Lange schien es so, als geschehe der Aufstieg der AfD ohne wirkliche Gegenwehr. Dann kam die Correctiv-Recherche zum Potsdamer-Treffen, auf dem AfD-Mitglieder und andere Rechtsextreme Pläne zu einer sogenannten "Remigration" diskutierten. Hunderttausende gingen in ganz Deutschland auf die Straße, doch nach einigen Wochen ebbte der Protest ab. Hat diese Massenmobilisierung gar nichts erreicht?
Die Proteste haben gezeigt, dass es eine aktive, demokratische Zivilgesellschaft gibt, die den Rechtsdruck wahrnimmt und kritisch sieht. Aber nüchtern betrachtet folgte auf diese Massenproteste nichts. Bei den Bauernprotesten war das zum Beispiel anders, da wurden die Subventionskürzungen teilweise zurückgenommen. Das ist auch legitim, ich will das gar nicht bewerten. Aber wenn auf so eine beeindruckende Mobilisierung gar nicht reagiert wird, führt das in der Zivilgesellschaft zu einer politischen Depression. Menschen, die AfD wählen, machen das auch weiterhin, aber wer sich engagiert hat, ist womöglich enttäuscht, demotiviert und geht nicht mehr unbedingt wählen.
Wie hätte die Politik denn auf die Massenproteste reagieren können?
Es gibt etwa noch immer kein Demokratieförderungsgesetz. Bildung, Beteiligung, Infrastruktur werden mit Verweis auf Sparzwänge nicht so finanziert, dass die Menschen das Gefühl haben, es bewegt sich was auch gegen den grundsätzlichen Frust in der Gesellschaft. Es gibt keine klare Positionierung zur AfD, zumindest im Sinne von einem Parteiverbotsverfahren.
Weil es die Hoffnung gibt, die Wählerinnen und Wähler der AfD zurückzugewinnen?
Ja. Das kann man auch, nur nicht, indem man immer wieder Zugeständnisse macht, sondern durch eine gute Wirtschafts- und Sozialpolitik. Auch viele Menschen mit ausländerfeindlichen Einstellungen haben ein Interesse an sozialer Gerechtigkeit. Wenn die spüren, dass gute Sozialpolitik gemacht wird, ist Ausländerfeindlichkeit möglicherweise nicht mehr die Priorität. Vor 20 Jahren, als wir unsere Studie begonnen haben, hat die Mehrheit der rechtsextrem Eingestellten CDU oder SPD gewählt, weil diese Parteien für wirtschaftliche Stabilität oder für soziale Gerechtigkeit standen. Das war für die Wahlentscheidung wichtiger. Wenn diese Parteien glaubhaft für diese Themen kämpfen, überzeugt das sicher viele Wählerinnen und Wähler der AfD. Denn die AfD bietet dafür keine Lösungen an.
Waren die Demonstrationen möglicherweise auch nicht mehrheitsfähig, weil es vor allem linksliberal eingestellte Menschen waren, die da demonstriert haben?
Es gibt in einigen CDU-Landesverbänden eine große Distanz zu solchen, eher links verstandenen demokratischen Mobilisierungen. Auch wenn sich die Demonstrationen gegen die AfD gerichtet haben, kann eine "Demo gegen rechts" von Politikerinnen und Politikern der CDU als Protest gegen die eigene Partei verstanden werden. Und umgekehrt gibt es eine Distanz in diesen Mobilisierungen zur CDU, die als Teil des Problems wahrgenommen wird. Eine sinnvolle Konsequenz aus den Demonstrationen könnte sein, da künftig klar zu werden: Dass man ausdrücklich gegen Rechtsextremismus oder die extreme Rechte demonstriert. Dass wirtschaftspolitisch rechte Ansichten oder eine Positionierung rechts der Mitte per se nicht antidemokratisch sind. Zugleich muss es für die CDU auch akzeptabel sein, dass da Menschen mit bunten Haaren mitlaufen oder Antifa-Fahnen wehen, die ebenfalls nicht per se antidemokratisch oder linksextrem sind.
Das heißt, Sie glauben, dass es auch künftig wieder zu solchen Demonstrationen kommen kann?
Demokratische Massenmobilisierungen sind zumindest kein neues Phänomen, vergleichbare Demonstrationen gab es in den 1990er-Jahren auch schon. Allerdings ist es dafür wichtig, sich eine demokratische Offenheit zu bewahren: Wenn es gestern nicht geklappt hat, können wir morgen, unter einer neuen Bundesregierung, trotzdem etwas erreichen. Ein demokratisches System lebt davon, dass Menschen weiterhin überzeugt bleiben, sich zu engagieren, und die Möglichkeit bekommen, mitzugestalten.
Nun steht Ende Februar wieder eine Bundestagswahl an. Gehen Sie davon aus, dass sich die jüngsten Erfolge der AfD weiter fortsetzen werden?
Das ist nicht ausgemacht. Ich glaube nicht, dass die AfD automatisch viel Rückenwind nach den Landtagswahlen hat. Es kommt darauf an, wie polarisiert der Wahlkampf verläuft und welche Themen zentral sein werden. Wenn es viel um Migration und Asyl geht, spielt das der AfD in die Karten. Neue Entwicklungen im Ukraine-Krieg zum Beispiel können die Karten aber auch wieder neu mischen. 2021, mitten in der Pandemie, haben wir einen relativ zivilisierten Wahlkampf zwischen SPD, Union und Grünen erlebt, von den sexistischen Angriffen auf Annalena Baerbock mal abgesehen. Und die AfD hat schlechter abgeschnitten als von vielen vorausgesagt. Allerdings haben wir in den USA und zuletzt auch in Rumänien gesehen, welchen großen Einfluss soziale Netzwerke haben. Es wird darauf ankommen, nicht auf Desinformationskampagnen hereinzufallen. Dem müssen Konservative, Liberale, Grüne, Sozialdemokraten und Linke gemeinsam entgegentreten.
Mit Johannes Kiess sprach Marc Dimpfel
Quelle: ntv.de