Politik

Reisners Blick auf die Front "Die Einnahme eines Ortes bedeutet faktisch: seine völlige Zerstörung"

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Im Donbass können die russischen Truppen weiter vorrücken und machen die Dörfer dort dem Erdboden gleich. Doch auch weit hinter der Front landen russische Raketen, etwa auf Flugplätzen. Warum diese Erfolge für die westlichen F-16 so gefährlich sind, erklärt Oberst Markus Reisner ntv.de.

ntv.de: Die russische Seite meldete jüngst die Einnahme weiterer Ortschaften im Donbass - Sokil und Tschigari. Sind diese Erfolge strategisch bedeutsam?

Markus Reisner: Diese eingenommenen, eigentlich kleinen Ortschaften reihen sich ein in die Angriffe der russischen Seite, die wir entlang der gesamten Front sehen. Im Donbass sind die Attacken erfolgreich, dort erobern die Russen Woche für Woche kleine Dörfer, die vor dem Krieg wenige 100 Einwohner hatten. Wenn sie eingenommen werden, bedeutet das faktisch ihre völlige Zerstörung, die Orte werden dem Erdboden gleichgemacht. Vor allem im Donbass gelingt es den Kreml-Truppen dabei auch, in die Tiefe, also ins Gelände vorzustoßen. Oft vielleicht nur hunderte Meter, ein oder zwei Kilometer, aber die Erfolge sind da, das summiert sich. Signifikant ist der Erfolg bei Niu York und in Tschassiw Jar.

Das ist die Stadt, durch die der Donbass-Kanal verläuft.

Der Kanal trennt das östliche Viertel der Stadt vom Restgebiet und bildet für die russischen Truppen ein schwieriges Hindernis bei ihrem Vormarsch. Diesen östlichen Teil von Tschassiw Jar allerdings haben sie mittlerweile komplett eingenommen, zuletzt standen dort russische Fallschirmjäger im Einsatz. Noch gelingt es den Russen aber nicht, den Kanal selbst zu überqueren, um auch den Rest der Stadt zu besetzen.

Nutzen die Russen bei diesen Angriffen eine wiederkehrende Taktik?

Anhand der Videos aus dem Kampfgebiet erkennen wir, dass sie vor allem der Vorbereitungsphase mehr Raum widmen. Es kommt zu massiven Angriffen mit Artillerie, Raketenwerfern, vor allem aber nutzen sie die zerstörerischen Gleitbomben - laut Meldungen der Ukrainer zählen diese derzeit bis zu 800 Angriffe mit Gleitbomben pro Woche.

Mit diesen schweren Bomben werden auch Ziele wie Supermärkte und kritische Infrastruktur angegriffen mit verheerenden Folgen. Was richten die Russen mit den Gleitbomben speziell an der Front aus?

Mit ihrer Sprengkraft können die Gleitbomben ukrainische Verteidigungsstellungen komplett zerstören und so einen Angriff der Russen vorbereiten, der anschließend erfolgt. Was wir auch beobachten: Verheerende Gleitbombenangriffe auf das Stadtgebiet von Charkiv. Und weit hinter der Front, auf ukrainischem Gebiet, setzen die Russen weitreichende Aufklärungsdrohnen ein und greifen anschließend zum Beispiel Absprungplätze der ukrainischen Luftwaffe an. Zum Erfolg dieser Angriffe gibt es unterschiedliche Angaben: Die Russen behaupten, sie hätten kürzlich drei Kampfjets - zwei SU 27 und eine MiG 29 - sowie einen Kampfhubschrauber vom Typ Mi24 zerstört. Die ukrainische Seite bestätigt das so nicht, sondern gibt als Verlust nur ein Flugzeug an.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag bei ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag bei ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

(Foto: ntv.de)

Die Ukrainer behaupten, die Russen hätten vor allem Flugzeug-Attrappen getroffen.

Das mag schon sein. Viel wichtiger als die Frage, ob Russland drei oder nur einen Jet ausschalten konnte, ist aber ein anderer Faktor.

Nur zu.

Diese Angriffe zeigen, dass die Russen in der Lage sind, weit hinter der Front den gegnerischen Raum zu beobachten und dort auch zu wirken. Das ist ein Vorgeschmack auf den möglichen Einsatz westlicher F-16 Kampfjets in der Ukraine.

Sie meinen, dass auch für die F-16 die Gefahr besteht, wie eines der Flugzeuge aus Sowjet-Zeiten getroffen und womöglich zerstört zu werden?

Diese F-16, wenn sie denn mal geliefert sind, müssen sehr gut geschützt werden, damit den Russen genau das nicht gelingt.

Die neue niederländische Regierung hat angekündigt, sie wolle mit der Lieferung von F-16 "unverzüglich" beginnen. In den vergangenen Wochen wurde vor allem die aufwändige Ausbildung der ukrainischen Piloten als Bremsklotz angeführt. Darum würde sich die Abgabe der Flugzeuge verzögern.

Der Grund für die Verzögerung liegt nicht in der Verfügbarkeit der ausgebildeten Piloten. Auch nicht in der Verfügbarkeit von Waffen, die der westliche Kampfjet tragen könnte, also Luft-Luft-Systeme oder Luft-Boden-Systeme. Stattdessen ist vor allem die Logistik das Problem. Wo und wie bringen die Ukrainer diese Flieger unter, damit sie überhaupt eine Überlebenschance haben?

Also geschützt sind vor ebensolchen russischen Luftangriffen?

Genau. Die Russen greifen schon jetzt mit weitreichenden Raketen ukrainische Luftwaffenbasen an, obwohl die F-16 noch gar nicht da sind. Um die Jets, wenn sie mal angekommen sind, zu schützen, brauchen sie nicht nur einen Absprungplatz als Basis, sondern sie brauchen mehrere Basen. Sie müssen in der Lage sein, die F-16 rotieren zu lassen, sie mal hier und mal dort unterzubringen und so vor den russischen Aufklärungsmitteln zu verbergen. Das ist sehr schwierig, denn die Angriffe zeigen, dass die Russen diese potenziellen Flugplätze beobachten und erkennen, ob es dort Aktivitäten gibt, die etwa der Vorbereitung einer Stationierung dienen könnten.

Man stelle sich das vor: Der Westen liefert endlich, nach monatelangen Vorbereitungen, die ersten eigenen Kampfflieger, und noch bevor der erste Einsatz erfolgt schicken die Russen ein Video um die Welt, wie es eine F-16 zerreißt.

Der Prestigeverlust für den Westen wäre massiv. Darum ist die Ukraine und sind die westlichen Unterstützer sehr vorsichtig hinsichtlich der Lieferung der Flugzeuge. Man möchte es so gut wie nur möglich vorbereiten, um ein solches Desaster zu vermeiden.

Welche Möglichkeiten haben die Ukrainer?

Da gibt es mehrere Maßnahmen. Einerseits, das haben wir schon erwähnt, der dezentrale Ansatz. Mehrere Orte, von denen aus das Flugzeug starten kann, so dass es zwischen diesen Flugplätzen rotiert. Das macht es für die Russen sehr viel schwieriger, die Maschine aufzuklären. Dann gibt es die Möglichkeit, auf den Flugplätzen selbst gehärtete Strukturen zu schaffen, zum Beispiel eine Art Bunker, in die der Flieger hineingeschoben wird, der sich auch verschließen lässt. Wir sehen, dass die Russen vor allem Clustermunition einsetzen gegen Flugplätze, also Bomben und Raketen mit Flächenwirkung. Steht das Flugzeug im Freien, kann man auch ohne einen ganz präzisen Treffer den Jet schon stark schädigen. Steht er in einem Bunker oder einem gehärteten Shelter, also Schutzraum, wäre er gegen diese Art von Angriff gut geschützt. Ein Bunker müsste schon punktgenau getroffen und die Decke eines Shelters penetriert werden, um das Flugzeug darunter zu zerstören.

Können die Ukrainer solche Schutzmöglichkeiten auch jetzt noch bauen?

Wenn die Russen im Donbass einen Ort einnehmen, bleibt wenig davon übrig. Hier die Luftaufnahme eines Stadtteils des umkämpften Tschassiw Jar.

Wenn die Russen im Donbass einen Ort einnehmen, bleibt wenig davon übrig. Hier die Luftaufnahme eines Stadtteils des umkämpften Tschassiw Jar.

(Foto: picture alliance/dpa/Press service of 24 Mechanised brigade/AP)

Das ist sehr aufwändig und dadurch natürlich auch sehr gut sichtbar. Zumal den Russen ja die Verteilung der Militärflugplätze aus der Vergangenheit vertraut ist. Zu Zeiten der Sowjetunion haben sie diese Plätze selbst betrieben und dadurch auch noch immer ein Gefühl für den Zustand dieser einzelnen Objekte. Sie wissen genau, wo es noch gehärtete Shelter gibt und wo nicht. Und die können sie natürlich nach und nach auch angreifen und zu zerstören versuchen.

Fliegerabwehr wäre theoretisch wahrscheinlich auch gut, aber es fehlen die Mittel?

Von diesen Waffen hat die Ukraine zu wenig. Allein an Systemen mittlerer Reichweite stehen etwa nur vier Patriot-Systeme derzeit zur Verfügung. Die USA wollen noch eines schicken, die Niederländer haben eines angekündigt, aber um alle F-16 zukünftig damit schützen zu können, bräuchte man etwa 25 Patriots - eine Menge, weit jenseits dessen, was der Westen zu liefern bereit und in der Lage ist. Der letzte Luftangriff der Russen und seine Folgen in Kiew zeigen, dass die Forderung des ukrainischen Präsidenten nach mehr Flugabwehr völlig berechtigt sind. Reine Defensivwaffen, die helfen, vor allem die Bevölkerung vor Terror zu schützen.

Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

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