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Gressel zur russischen Offensive "Die Russen machen Jagd auf ukrainische Sanitäter"

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Ukrainische Sanitäter bergen einen verwundeten Kameraden in der Region Charkiw.

Ukrainische Sanitäter bergen einen verwundeten Kameraden in der Region Charkiw.

(Foto: REUTERS)

So stark unter Druck wie derzeit stand die Ukraine selten in diesem Krieg. Was bedeutet das für die kommenden Monate? Wie können die Frontkämpfer den Russen standhalten? Sicherheitsexperte Gressel spricht über die größten Herausforderungen und die Trümpfe, die die Ukraine noch in der Hand hat.

ntv.de: Herr Gressel, wenn man auf die Menge und Massivität der russischen Angriffe derzeit schaut: Welche Dimension hat das insgesamt?

Gustav Gressel: Die lang erwartete russische Sommeroffensive dürfte jetzt begonnen haben. Das sehen wir an den den Bilanzen des ukrainischen Generalstabs.

Was erkennen Sie da?

An ruhigen Tagen zählte der bislang 50 bis 60 schwere Gefechte pro Tag. Zum Höhepunkt der Winteroffensive im Januar dieses Jahres waren es etwa 92, 93. Vor einigen Tagen hat er 115 gemeldet.

Wieviel bewirken die Russen damit?

In den vergangenen Tagen haben die Russen an der Front jeweils bis zu eineinhalb Kilometer Fortschritt gemacht. Dazu folgender Hintergrund: Den Vorschriften der russischen Armee zufolge soll eine angreifende Division eigentlich täglich nur 700 Meter voranschreiten. Mehr, das ist die eigene Vorgabe, schaffen sie nicht. Das heißt, sie liegen in bestimmten Sektoren der Front noch über ihrem Plansoll. Das zeigt, wie stark die ukrainischen Kräfte unter Druck sind. Eigentlich hätten sie die Heeresreserven natürlich gerne in diese bedrohten Frontabschnitte geworfen, um dort die russischen Fortschritte zu stoppen oder einen Gegenangriff zu starten. Doch die müssen sie jetzt Richtung Charkiw und Charkiw Oblast werfen.

Gustav Gressel ist Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations (ECFR). Er ist Experte für Russland und Osteuropa, Militärstrategie und Raketenabwehr.

Gustav Gressel ist Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations (ECFR). Er ist Experte für Russland und Osteuropa, Militärstrategie und Raketenabwehr.

(Foto: seesaw-foto.com)

Vielfach wurde die Einschätzung gegeben, dass bis zum Eintreffen der US-Unterstützung an der Front die Russen versuchen würden, so massiv anzugreifen, wie nur möglich. Aber was wir jetzt sehen, geht also darüber hinaus?

Die Russen sind zurzeit im Leistungsmaximum. Sie haben jetzt etwa 520.000 Mann in der Ukraine stehen. Dazu kommen etwa 3400 Kampfpanzer und rund 5000 Schützenpanzer, gepanzerte Fahrzeuge und noch mal eine höhere Zahl an Artilleriesystemen. Das ist schon eine Masse. Diese Kraft wird nicht in zwei, drei Wochen abflauen. Das sollten wir nicht erwarten. Das wird den ganzen Sommer andauern, bis die Russen ihre Angriffswucht verlieren werden und es für sie dann mühsamer wird.

Werden die ukrainischen Streitkräfte bis dahin durchhalten?

Es ist eine extrem schwierige Situation und die wird leider auch die nächsten Monate schwierig bleiben. Die aktuellen Gebietsverluste werden vermutlich nicht die letzten sein, die die ukrainische Armee wird hinnehmen müssen. Aber an den Hauptfrontabschnitten hat der Zusammenhalt der Kräfte bis jetzt gehalten. Das ist positiv aus Sicht der Ukraine. Natürlich gibt es mehr russischen Fortschritt, weil die Reserven fehlen. Aber die ukrainischen Truppen führen einen geordneten Verzögerungskampf. Es gelingt ihnen, den Russen erhebliche Verluste zuzufügen. Das haben sich die Ukrainer vorgenommen und das schaffen sie auch.

An der Front scheint es an allem zu fehlen. Nicht nur an Munition für die Artillerie, auch an gepanzerten Transportfahrzeugen und Fliegerabwehr. Welche Probleme macht die Masse an russischen Drohnen derzeit?

In der Vergangenheit wurden Osa- und Strela-Systeme der ehemaligen Sowjetunion dazu genutzt, die russischen Aufklärungsdrohnen abzuschießen. Für die gibt es aber keine Munition mehr. Zugleich können Flakpanzer wie der Gepard diese russischen Drohnen nicht zerstören. Sie fliegen zu hoch. Darum klären diese Drohnen mittlerweile ziemlich ungestört ukrainische Reserven auf, ukrainische Stellungsräume, Kommandostände. Wenn sie Ziele identifizieren, geben sie deren Koordinaten an Einheiten von Kampfdrohnen weiter und die greifen an. Auch zivile Versammlungsorte, etwa Verteilungspunkte für humanitäre Hilfe oder Supermärkte oder Hochzeiten. Die Kampfdrohnen schießen auf alles, wo man viele Menschen auf einmal treffen kann. Das macht das Leben auch hinter der Front ziemlich schwer.

Wenn also Gepards da nichts ausrichten können, und für Strela die Munition alle ist - was wäre denn die mögliche militärische Antwort auf die Aufklärungsdrohnen? Gibt es die schon, sie ist aber noch nicht ausreichend vorhanden? Oder müsste sie überhaupt erst noch entwickelt werden?

Die klassische Antwort darauf wäre ein Roland gewesen. Das ist ein Fliegerabwehrsystem der Bundeswehr mit acht Kilometern Reichweite, das es im Kalten Krieg gegeben hat. Die existieren aber nicht mehr. Also entwickeln die Ukrainer gerade Abfangdrohnen, die ein bisschen schneller fliegen als normale Drohnen. Die können sie dann gezielt einsetzen, um andere Drohnen einzufangen und abzuschießen. Es gibt schon einige Prototypen. Aber die müssen natürlich eine gewisse Reife erlangen, damit man sie auch in Masse produzieren kann. Die Ukrainer sind recht kreativ und können in kurzer Zeit Neues entwickeln. Aber dann fehlt meistens das Geld, um funktionierende Geräte in der benötigten Menge zu bauen.

Das heißt, für die Drohnenabwehr müsste der Westen gar nicht eigene Waffen abgeben, sondern könnte durch Geld die ukrainische Produktion ankurbeln?

Genau. Das wäre sogar besser, weil die Ukraine um einiges günstiger produziert als der Westen. Drohnen, die in der US Army für 50.000 Dollar pro Stück beschafft werden, sind oft nicht leistungsfähiger als die Dinger, die man für 500 Euro in der Ukraine herstellt. Außerdem ist der Entwicklungszeitraum extrem knapp, weil die Russen dann auch wieder versuchen, Gegenmittel zu entwickeln.

Da herrscht eine Art ständiger Rüstungswettlauf?

Genau. Wenn man nicht vor Ort ist, wenn man nicht Teil des Entwicklungskreislaufs ist, dann ist es enorm schwierig, etwas Zeitgerechtes zu produzieren. Auch deutsche Firmen, die mit innovativen Produkten am Markt sind, Quantum Systems zum Beispiel, haben ihre Entwickler vor Ort in der Ukraine. Sie würden es sonst gar nicht schaffen, in diesen schnelllebigen Entwicklungskreisläufen irgendein vernünftiges Produkt auf den Markt und in die Ukraine zu bringen.

Wenn wir einmal auf die jüngsten Waffenzusagen aus dem Westen schauen: Die USA wollen rund 100 Bradley Schützenpanzer schicken. Wird das helfen, schneller Verletzte zu bergen? Ein Kriegsversehrter in Kiew erzählte mir, er habe neun Stunden auf seine Rettung gewartet. Dadurch hat er seine Beine verloren.

Die russischen Truppen machen in diesem Krieg gezielt Jagd auf Sanitäter. Darum ist die Bergung der ukrainischen Verletzten oft so schwierig.

Die Russen nehmen unbewaffnete Retter ins Visier?

Sanitäter haben prozentual die höchste Gefallenenzahl in der ukrainischen Armee derzeit. Sie haben die höchste Rate an Verlusten. Wenn auf dem Schlachtfeld Trupps auftauchen, die Verwundete bergen, wenn der Verdacht besteht, dass da qualifizierte Sanitäter sind, wird sofort das Feuer auf sie konzentriert. Die Russen jagen sie ganz gezielt, um die Moral auf der ukrainischen Seite zu untergraben. Die leidet natürlich sehr, wenn sich die Kämpfer nicht darauf verlassen können, im Falle einer Verletzung auch geborgen zu werden.

Die Schützenpanzer werden da eine spürbare Erleichterung bringen?

Die Bergung von Gefallenen oder Verwundeten gelingt viel eher, wenn man das mit dem Schützenpanzer macht. Im schweren Gelände bietet der den besten Schutz bei bester Mobilität. Und weil er eine Maschinenkanone hat, kann er den Gegner während des Bergevorgangs niederhalten. So können zum Beispiel russische Scharfschützen die Sanitäter nicht sofort unter Feuer nehmen. Gerade die Bradleys bewähren sich da sehr und werden dazu oft eingesetzt.

Mit Blick auf deutsche Unterstützung für Kiew wurden letzte Woche drei HIMARS-Raketenwerfer gemeldet, die Deutschland in den USA kauft und dann in die Ukraine schickt.

Der Vorteil der amerikanischen Werfer ist, dass sie im Grunde jede Art von Munition verschießen. Die europäischen Werfer können dagegen rein technisch keine Streumunition mehr verschießen. Sie wurden entsprechend umgerüstet, weil Deutschland sich wie viele andere Staaten 2010 selbst verpflichtet hat, auf Streumunition zu verzichten. Das Problem an der Front ist jedoch: Mit GPS-gesteuerter Munition trifft man fast nichts mehr.

Weil die russischen Störsender so effektiv sind?

Weil die Störsender so stark sind und so gut und weil sie so dicht stehen. Das macht die Front zu einem sogenannten GPS denied environment, also einer Umgebung, in der die elektronischen Signale für GPS-Steuerung komplett unterdrückt werden. Mit Präzisionswaffen westlicher Bauart, die GPS als Hauptlenksystem haben, kann man kaum mehr treffen. Hin und wieder schon, aber die Trefferwahrscheinlichkeit ist horrend gering.

Und mit Streumunition?

Da geht es noch, weil die sich über ein gewisses Gebiet verstreut. Man muss in etwa festmachen, wo das System steht, das man treffen will. Dann schießt man mit Clustermunition rein und trifft es meistens. Und die wenigen Treffer, die mit konventioneller, GPS gelenkter Munition erzielt werden, sind auch nur möglich, weil dann die Störsender vorher mit Clustermunitionsträgern zerstört wurden. Das reißt eine Lücke ins elektromagnetische Dispositiv der Russen, und da kann man mit normaler Munition dann auch noch ein Ziel treffen.

Das wäre also klassischer Kampf der verbundenen Waffen, oder? Mithilfe einer Waffengattung bereite ich die Zielumgebung so vor, dass anschließend ein anderer Waffentyp den Treffer landen kann?

Ja, das gilt im Prinzip für alle Waffensysteme: Die kann ich nicht so mir nichts, dir nichts einsetzen. Wenn die Ukrainer zum Beispiel mit ATACMS Raketen angreifen, setzen sie meistens gleichzeitig auch Systeme ein, die die russische Flugabwehr stören und ablenken. Damit wird die erforderliche Lücke geschlagen, damit ein Storm Shadow Marschflugkörper oder ein anderes System dann den eigentlichen Treffer landet. Weil die Russen einen gewissen Teil der eingesetzten Raketen erfolgreich abschießen, muss die Ukraine grundsätzlich mehr Raketen verschießen als eigentlich im Ziel gebraucht würden.

Die Effektivität von Streumunition in dieser besonderen Lage leuchtet sehr ein. Dennoch bleibt es ja Munition, die aufgrund ihrer breiten Streuwirkung besonders gefährlich für Menschen ist. Blindgänger können Jahre nach einem Krieg noch Zivilisten treffen.

Es gibt humanitäre Bedenken mit Blick auf die Blindgänger-Quote. Wichtig zu wissen ist allerdings: Es macht einen erheblichen Unterschied, welche Art von Zünder in diesen Munitionskörpern vorhanden ist. Da gibt es sehr unsichere, gefährliche Zünder, es gibt aber auch recht sichere elektronische Zünder, die kein erhebliches Blindgänger-Risiko haben. Ich sage nicht, dass es keine Blindgänger gibt und diese Munition total ungefährlich ist, aber dass die Quote im überschaubaren Bereich ist.

Welche Situation erwartet die Ukraine in den Kampfgebieten nach dem Krieg? Kann man das abschätzen?

Die Nachkriegssituation in der Ukraine wird aus hunderten Quadratkilometern Minenfeld bestehen. Sieben Millionen Minen liegen allein im Süden in der Ukraine im Boden. Dort haben wir fern verlegte, also über Raketenwerfer verlegte Anti-Personen-Minen, überall im Gelände. Wir haben nordkoreanische Munition aus den 50er Jahren mit einer Blindgänger-Quote von über 30 Prozent. Das ist das Zehnfache der Quote amerikanischer Streumunition. Diese Regionen werden extrem verseucht sein. Ob dort Streumunition eingesetzt wurde oder nicht, wird leider keinen erheblichen Unterschied mehr machen.

Mit Gustav Gressel sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

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