Ukraine gibt Debalzewe auf Ein kluger Rückzug
18.02.2015, 16:09 Uhr
Nach tagelangem Beschuss verlassen ukrainische Soldaten Debalzewe.
(Foto: AP)
Das Minsker Abkommen ist gebrochen, Debalzewe gefallen. Bricht die Gewalt nun wieder los? Das Gegenteil könnte der Fall sein.
Nichts wünscht man der Ukraine mehr als klare Linien. Der Herrschaftsbereich der Regierung zerfasert am Frontverlauf im Osten des Landes. Die Souveränität, das Recht auf Selbstbestimmung der Ukrainer, steht in Frage. Niemand weiß, welche Rechte sich die Separatisten noch erkämpfen wollen und wie weit sie mit ihren russischen Panzern noch vorrücken werden.
Nicht nur der ukrainische Staat zerfasert, auch der Konflikt selbst kennt kaum noch Grenzen: Er hat sich zu einem Wirtschaftskrieg zwischen Russland und dem Westen ausgewachsen und könnte noch zu einem Stellvertreterkrieg zwischen diesen Parteien werden. Es wird wieder über die Leistungsfähigkeit der großen Armeen gesprochen und sogar über den Stand der nuklearen Abschreckung.
So paradox es klingt: Die Eroberung Debalzewes und der Bruch des Minsker Abkommens könnten zur Beruhigung der Lage beitragen und im Interesse der Ukraine sein.
Das Chaos, die Entgrenzung, die Unberechenbarkeit gehören zur Strategie Wladimir Putins, der es mindestens zulässt, dass die Separatisten mit Kämpfern und Waffen aus Russland versorgt werden. Alles, was verlässlich ist, klar und eindeutig, läuft dieser Strategie entgegen.
Ein Sammelsurium an frommen Wünschen
Insofern ist es eine Tragödie, dass die Vereinbarungen von Minsk offensichtlich so wenig wert sind. Sie sahen vor, dass sich die Separatisten auf die Linien zurückzogen, an denen sie im September standen. Stattdessen erobern sie die Stadt Debalzewe und verschieben ihre Frontlinie damit weiter nach Westen anstatt sie zurück zu verlagern. Die einigermaßen klare Abmachung Minsk II, unterzeichnet von Vertretern beider Seiten, ist in Wirklichkeit nur eine Absichtserklärung – ein Sammelsurium an frommen Wünschen, von denen jeder nur die umsetzt, die ihm selbst nutzen.
Dass Minsk II fragil ist, war von vornherein klar. Denn die vereinbarten Punkte wirken angesichts der Lage viel zu optimistisch. So soll es Wahlen in den Regionen Donezk und Lugansk geben, organisiert von Kiew, kontrolliert von der OSZE. Danach soll Kiew die Grenze zu Russland wieder selbst kontrollieren. Das hieße, dass die Separatisten sich nicht mehr mit Waffen versorgen könnten. Die Machtverhältnisse würde das dramatisch verschieben, dass sich die Separatisten darauf einlassen, war also wenig realistisch.
Minsk II war aber auch fragil, weil der militärische Zustand so instabil war: Die Stadt Debalzewe war aus Sicht der Ukraine der Keil, den man zwischen Lugansk und Donezk treiben könnte – wenn man denn überhaupt zu einer Offensive in der Lage wäre. Aus Sicht der Separatisten war Debalzewe ein fehlendes Stück Bahnstrecke, ohne das der Verkehr zwischen Lugansk und Donezk gestört war. Dass die Separatisten ihren Anspruch auf Debalzewe aufgeben, war ein weiterer frommer Wunsch.
Keine Verunstimmung sondern ein Krieg
Zwar widerspricht die Eroberung Debalzewes der Vereinbarung von Minsk, zwar sind dabei schon wieder Menschen gestorben, doch der Zustand der Separatistengebiete hat durch die begradigte Front eine stabilere Form angenommen. Kiew kann seine Kräfte darauf verwenden, andere Stellungen zu halten.
Die Ukraine leidet unter diesem Krieg so sehr, dass sich die pro-westliche Stimmung auch wieder drehen könnte. Die Währung hat nur noch ein Drittel ihres Wertes der Vor-Maidan-Zeit, die Regierung kommt nicht dazu, die Reformen gegen Korruption und Oligarchie anzugehen. Das Ziel der Ukraine muss es darum sein, stabile Zustände herzustellen. Verbissen Meter um Meter zu verteidigen, ist dazu sicher nicht die beste Taktik. Darum war es wohl die richtige Entscheidung Kiews, die Truppen aus Debalzewe abzuziehen und die Stadt dem Feind zu überlassen.
Hoffentlich führt die begradigte Frontlinie von Debalzewe zu mehr Stabilität als die gebrochene Abmachung von Minsk. Möglich ist das. Militärische Fakten wiegen schwerer als diplomatische Verhandlungen. Denn die Ukrainekrise ist eben keine diplomatische Verunstimmung, sondern ein Krieg.
Quelle: ntv.de