Radikalisierung unter dem Radar Einzeltäter sind unberechenbare Gefahr
15.07.2016, 17:18 Uhr
Die Terrorzellen und Gruppen von möglichen Attentätern zu erkennen, darauf haben sich die Sicherheitsbehörden spezialisiert. Gegen Einzeltäter, die ihre Taten allein und mit einfachsten Mitteln planen, haben sie kaum eine Chance.
Der Polizei war der Attentäter von Nizza lediglich als Kleinkrimineller bekannt. Nun hat der 31-Jährige tunesischer Herkunft einen Anschlag unvorstellbaren Ausmaßes verübt. Auch wenn ein islamistischer Hintergrund bislang unklar ist, die Sicherheitsbehörden warnen seit langem vor Einzeltätern gerade aus diesem Spektrum. Innenminister Thomas de Maizière verwies denn auch am Freitag in Berlin darauf, dass der Anschlag von Unterstützern der Extremistenorganisation "Islamischer Staat" in sozialen Netzwerken gefeiert werde. Gefährlich macht solche Einzeltäter, dass sie sich meist unterhalb des Radars von Polizei und Geheimdiensten radikalisieren, Taten alleine und ohne Kontakte zur Außenwelt planen.
Der Anschlag in Nizza zeige, wie real die Gefahr "islamistischer Terrorakte" in Europa sei, sagte de Maizière. Der Anschlag mit einem Lastwagen auf der Uferpromenade belege zudem, dass mit unterschiedlichen Szenarien und Anschlagsarten gerechnet werden müsse. Der Bundesverfassungsschutz hat dazu schon vor einiger Zeit verschiedene Szenarien aufgelistet:
Unterschiedliche Täter-Szenarien
Zum einen sind da die sogenannten "Hit-Teams", die im Auftrag der Extremistenorganisation IS oder auch von Al-Kaida in ein Land einreisen, um Anschläge zu verüben.
Als Bedrohung gelten auch sogenannte Schläfer, die von den Extremistenorganisationen aktiviert werden können.
Sorge bereiten den Behörden auch Personen, die sich aus Deutschland oder anderen Ländern auf den Weg nach Syrien machen, um an der Seite des IS zu kämpfen - und die schließlich enthemmt und mit Kampferfahrung zurückkehren. 820 Personen sind bislang aus Deutschland in den Dschihad gezogen.
Die wohl unberechenbarste Gruppe stellen aber die besagten Einzeltäter dar, die sich meist über das Internet oder über Kontakte in die islamistische Szene radikalisieren. Auch Kleingruppen, die sich in Deutschland im Stillen radikalisiert haben, könnten ohne IS-Auftrag tätig werden. Auch bei ihnen spielt die Internetpropaganda die wesentliche Rolle.
Taten mit einfachen Mitteln
Beim BAMF gibt es für solche Fälle eine Beratungsstelle mit bundesweiter Telefon-Hotline. Diese ist gedacht für Eltern, Angehörige, Freunde aber auch Lehrer und Arbeitskollegen. Seit 2012 sind dort nach Angaben eines Sprechers rund 2500 Anrufe eingegangen, allein in diesem Jahr schon knapp 400. "In allererster Linie handelt es sich um Familienangehörige." Meistens werden die Fälle an andere Beratungsstellen weitergegeben, die einem Netzwerk zusammengeschlossen sind. In sicherheitsrelevanten Fällen wie einer bevorstehenden Ausreise nach Syrien wird mit den Behörden zusammengearbeitet.
Die Beratungsstelle Radikalisierung ist zu erreichen von Montags bis Freitags 9 bis 15 Uhr unter Tel. 0911/9434343
Auch das Innenministerium verweist auf die Gefahr von Einzeltätern und Kleingruppen. Diese versuchten zunehmend, mit relativ geringem Aufwand hohen Schaden anzurichten, sagte ein Sprecher. Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen machte unlängst deutlich, dass gerade islamistisch motivierte Täter ohne Auftrag auf eine "unkomplizierte Tatausführung mit einfachen Mitteln" setzten. Als Beispiel gilt die Attacke der 15-jährigen Safia S., die im Februar am Hauptbahnhof von Hannover einen Bundespolizisten mit einem Küchenmesser schwer verletzte. Ihr Tatmotiv scheint eine gescheiterte Ausreise nach Syrien gewesen zu sein, da sie von ihrer Mutter zurückgeholt wurde.
Die Herausforderungen für die Sicherheitsbehörden in solchen Fällen sind hoch. "Wenn es sich um Einzeltäter handelt, sind konkrete Vorermittlungen denkbar schwierig", sagt der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Oliver Malchow. Allerdings gebe es im Umfeld der Täter meist Personen, die in die Vorhaben eingeweiht seien oder Kenntnis darüber bekommen hätten. "Deshalb sind die Sicherheitsbehörden auf die Unterstützung der Bevölkerung angewiesen."
Anhaltspunkte für Radikalisierung
Auch de Maizière hat daher mehrfach an Eltern, Nachbarn, Arbeitskollegen oder Mitspieler in Fußballvereinen appelliert, vor eventuellen Radikalisierungen nicht die Augen zu verschließen. Ein Anhaltspunkt kann sein, wenn ein Jugendlicher neben der eigenen Religion keine anderen Meinungen duldet und die alten Freunde plötzlich als Ungläubige bezeichnet. Auch wenn die bisherige Lebensweise, Hobbys und Musik plötzlich verteufelt werden oder der Jugendliche ständig auf salafistischen Seiten surft, könnte dies einer Broschüre des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zufolge ein mögliches Indiz sein. Aufmerksamkeit ist auch gefragt, wenn sich das eigene Kind zurückzieht und die Eltern Angst haben, den Kontakt zu verlieren.
Salafisten als Gefahr
Gerade in den inzwischen rund 8900 Salafisten sehen die Sicherheitsbehörden eine besondere Gefahr. Diese versuchen, Einfluss auf junge Leute zu nehmen, um sie zu radikalisieren oder als IS-Kämpfer zu rekrutieren. Die Schülerin Safia S. etwa besuchte nach Angaben des Verfassungsschutzes regelmäßig mit ihrer Mutter eine salafistische Moschee und nahm schon als junges Mädchen an salafistischen Rezitationen des Koran teil. Gerade bei Flüchtlingen könnten Salafisten auf offene Ohren stoßen - begünstigt durch Unzufriedenheit mit der Unterkunft, Desillusion und Frustration.
Quelle: ntv.de, bdk/rts