Politik

Aufgekratzter Bundestag zur Wahl "Für hanseatische Verhältnisse berührt"

Scholz ist neuer Bundeskanzler.

Scholz ist neuer Bundeskanzler.

(Foto: dpa)

Jetzt ist er Kanzler: Olaf Scholz wird vom Bundestag gewählt und vom Bundespräsidenten ernannt. Viele Abgeordnete sind ergriffen vom Moment, nicht nur die der Ampel. Auch der neue Regierungschef zeigt Emotionen.

Warten, mehr als eine Stunde lang nichts tun als Plaudern. Unter anderen Umständen wäre dieser Mittwochvormittag eher nicht nach Olaf Scholz' Geschmack gewesen. Doch die Institutionen der Demokratie sind nicht auf Effizienz getrimmt, sondern auf Legitimation und Repräsentation. So dauert es eben, bis mehr als 700 Abgeordnete ihre Stimme abgegeben haben und diese ausgezählt sind. Und Scholz plaudert. Mutmaßlich über Wichtiges, mit seinem designierten Gesundheitsminister Karl Lauterbach oder mit einigen der versammelten Ministerpräsidenten, die er am Donnerstag zur nächsten Bund-Länder-Pandemie-Runde trifft.

Er plaudert auch über wahrscheinlich weniger Wichtiges, etwa als der notorisch redselige Linken-Abgeordnete Gregor Gysi länger auf ihn einredet. Um 10.15 Uhr schließlich hat das Warten ein Ende; laufen 23 Jahre in der Politik und ein lange Zeit aussichtslos scheinender Bundestagswahlkampf auf den Höhepunkt in Scholz' Vita zu: Das Ergebnis wird bekannt gegeben.

Nur die AfD ist bedient

Es reicht, wie erwartet. Dass nur 395 von 416 Stimmen der Koalition zusammenkommen, erklären die Ampel-Fraktionen zum Teil mit Krankheitsausfällen. Dennoch müssen auch Ampelabgeordnete unter den Nein-Sagern und Enthaltern sein. Dass SPD, Grünen und FDP zusammen 67 Stimmen über der Mehrheit von 369 Angeordneten liegen, lässt der Koalition auch in Zukunft Raum für abweichendes Abstimmungsverhalten, wenn es mal knarzt in einer Fraktion. Scholz' Laune tut das zumindest keinen erkennbaren Abbruch. Mit einem kräftigen "Ja", ganz ohne das Saal-Mikrofon zu bemühen, beantwortet der 63-Jährige die Frage, ob er die Wahl annehme.

Es folgt kräftiger und langanhaltender Applaus. Auch die Abgeordneten der Union geben sich keine Blöße und tragen den für sie eigentlich bitteren Tag tapfer mit. Fraktionschef Ralph Brinkhaus ist der zweite Gratulant, der im Wahlkampf unterlegene Unionskanzlerkandidat Armin Laschet der dritte. Viele Unionsabgeordnete haben am Morgen in sozialen Medien und in Pressegesprächen bekundet, dass ein friedlicher, demokratischer Machtwechsel auch für sie ein Festtag ist, trotz allem. Auch die Linke applaudiert. Die AfD dagegen verzichtet aufs Klatschen. Die Gratulation an Scholz durch die Fraktionsvorsitzenden Alice Weidel und Tino Chrupalla fällt kurz und knapp aus.

Ganz neue Grüne

Umso besser ist die Stimmung in den neuen Regierungsfraktionen. Schon das laute Lachen als Bundestagspräsidentin Bärbel Bas ausnahmsweise das Fotografieren im Plenum erlaubt - "Freuen Sie sich nicht zu früh, das ist nur für heute." -, kündet von der aufgekratzten Stimmung. Die vielen strahlenden Gesichter bleiben leider unter den Masken verborgen. Die voraussichtlich neue Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang sagt im Gespräch mit ntv.de, das sei ein "besonderer Moment für dieses Land". Es ende eine "Politik des Hinterherrennens" hinter den Notwendigkeiten. "Ich möchte ja nicht 500 Mal das Wort historisch benutzen", sagt Lang, um es schließlich doch zu tun.

Für die Grünen ist es in doppelter Hinsicht ein besonderer Tag: Sie haben von allen drei Parteien am längsten gewartet, wieder mitregieren zu dürfen. Zugleich versammelt ihre Fraktion anteilig die meisten neuen Abgeordneten, die sowieso alles zum ersten Mal erleben. Die vielen Jungen in den Reihen von Grünen und SPD irren mitunter genauso planlos durch die unübersichtlichen Gänge des Bundestags wie die zahlreichen Berichterstatter, die sich sonst nicht hier einfinden. Dass die Grünen eine andere Partei sind, als jene, die 1998 erstmals in eine Bundesregierung eintrat, verraten auch Äußerlichkeiten. Fast alle Herren laufen in Sakkos herum, die Krawattenverweigerer Robert Habeck und Jürgen Trittin tragen heute welche.

Merkel muss dreimal aufstehen

Die gute Stimmung im Plenum schwappt nicht ganz bis auf die Oberränge über. Einer ist ohnehin den AfD-Abgeordneten vorbehalten, die einen 3G-Nachweis verweigern. Auf den beiden Ehrentribünen geht es relativ ruhig zu. In erster und zweiter Reihe verfolgen Scholz' Eltern, seine Frau Britta Ernst und seine beiden Brüder die Wahl. Auch Gerhard Schröder und seine Frau sowie der scheidende SPD-Vorsitzende Norbert Walter-Borjans, der kein Abgeordneter ist, sitzen hier.

Die Nachbartribüne gehört den Würdenträgern. Angela Merkel ist in Schwarz erschienen, wie eine Trauernde wirkt sie nicht. Sie plaudert mit den früheren Bundestagspräsidenten Norbert Lammert, Wolfgang Thierse und Rita Süssmuth sowie dem früheren Bundespräsidenten Joachim Gauck, die alle mit ihr in der ersten Reihe sitzen. Dahinter die designierten Ministerinnen Nancy Faeser, Anne Spiegel, Christine Lambrecht und Klara Geywitz, ebenfalls ohne Bundestagsmandat. Wenn Merkel die Plenarsitzung verfolgt, formen ihre Hände die berühmte Raute. Als Bundestagspräsidentin Bas sie begrüßt, ist der Applaus so langanhaltend, dass die Altkanzlerin sich dreimal zum Aufstehen genötigt sieht.

Scholz klammert sich an sich selbst

Auch die kommende Regierende Bürgermeisterin von Berlin, Franziska Giffey, sitzt auf einem Ehrenplatz. Sie sei sehr bewegt gewesen, berichtet sie hernach ntv.de. "Das ist ein sehr besonderer Moment, wenn ein sozialdemokratischer Kanzler gewählt wird." SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil sagt zu ntv.de: "Das ist ein emotionaler Tag, ich war sehr gerührt." Und Scholz? "Man merkt, dass ihm das sehr nahe geht. Er ist für hanseatische Verhältnisse sehr berührt", gewährt der kommende SPD-Vorsitzende Klingbeil Einblick ins Innere seines Kanzlers.

Der nimmt Punkt 12 Uhr, nach seiner Ernennung durch den Bundespräsidenten, Platz auf der Regierungsbank. Vorerst noch einsam, ohne seine noch nicht ernannten Minister. Erneut brandet Applaus auf. Man muss einfach davon ausgehen, dass Scholz breit grinst hinter der Maske. Beide Hände umschließen einander ganz fest, Scholz klammert sich an sich selbst. Dann leistet er mit fester Stimme den Amtseid, wobei Scholz wie erwartet Gott außen vor lässt. Ein neuer Reigen an Gratulanten stellt sich an, nun aber mit Handys statt Blumen. Die Abgeordneten wollen Selfies. Es ist ein besonderer Tag im Bundestag.

Quelle: ntv.de

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