
Olaf Scholz wird vierter SPD-Bundeskanzler nach Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder.
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Der Koalitionsvertrag zwischen den Ampelparteien ist unterschrieben, nichts steht mehr Olaf Scholz' großem Tag im Weg: Der etwas unnahbare Vollblutpolitiker wird am Mittwoch zum neunten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Von einem, der erst sich selbst und dann alle anderen bezwang.
Am Mittwochabend feiert der bisherige Vize-Kanzler seine Beförderung zum Bundeskanzler, doch vom Arbeitstier zum Partyhengst wird Olaf Scholz eher nicht mutieren. Wenn derzeit etwas mutiert, dann heißt es Sars-CoV-2. Wegen des Virus bleibt dem neuen Regierungschef höchstens Zeit, um in kleiner Runde auf seine Wahl zum Bundeskanzler anzustoßen. Dann wird er sich an die Arbeit machen. Dass es für Scholz immer weiter geht, wenn etwas geschafft ist, sagt auch sein engster Mitarbeiter. "Sein Blick ist eher nach vorn gerichtet", bezeugt der kommende Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt im Interview mit ntv.de.
Das dürfte eine Erklärung dafür sein, warum Scholz auch nach politischen Niederlagen immer weitermachen konnte, immer weiter, bis er schließlich das höchste Regierungsamt der Republik erreicht hatte. Hätte den Slogan nicht schon ein Baumarkt für sich gepachtet, könnte Scholz' Leitspruch auch lauten "Es gibt immer was zu tun". Also tut er es.
Das Ende einer Etappe
Die Ampelkoalition hat sich viel vorgenommen: den größten industriellen Umbau in Deutschland seit mehr als hundert Jahren, tiefgreifende gesellschaftliche Reformen. Und die SPD, so hat es der designierte Parteivorsitzende Lars Klingbeil ausgegeben, will die siegreiche Bundestagswahl als Aufbruch in ein "sozialdemokratisches Jahrzehnt" nutzen. Für Scholz ist seine Vereidigung nicht das Ziel seines Weges, sondern nur das Ende einer Etappe.
Wohin er will? Scholz betrachtet sich selbst als Anwalt der kleinen Leute, was er auch mit seinen Erfahrungen als Arbeitsrechtsanwalt erklärt. Und weil er alte SPD-Schule ist, steht für ihn die Arbeit im Mittelpunkt: nicht die Abschaffung oder Reduzierung der Arbeitszeit, nicht der Ausbau des Sozialstaats. Für Scholz ist Arbeit notwendige Bedingung für eine selbstbestimmte und würdevolle Lebensgestaltung. Hierzu passt, dass in den Ampelgesprächen die Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro für Scholz unverhandelbar war - nicht die ebenfalls versprochene Anhebung der Grundsicherungssätze oder die stärkere Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen.
Leben der Politik gewidmet
Jenseits solcher Überzeugungen bleibt Scholz eine kaum zu greifende Persönlichkeit, auch für Berichterstatter, die ihn nur ab und an persönlich treffen und begleiten. Ein Grund ist, dass Scholz seit mehr als 23 Jahren Vollzeitpolitiker ist und dieser Beruf - wenn man sich ihm wie Scholz voll und ganz verschreibt - ein immens hohes Maß an Selbstdisziplin, Ausdauer sowie Härte gegen sich und andere verlangt. Langjährige Spitzenpolitikerinnen oder Spitzenpolitiker bewegen sich in einer ganz eigenen Kapsel durch die Welt. Private Verbindungen - Familie und Freunde außerhalb des Politikbetriebs - können da erden helfen. Falls der kinderlose Scholz und seine Ehefrau, die Brandenburger Bildungsministerin Britta Ernst, Familienmenschen sein oder gesellige Runden schätzen sollten, ist das bislang nicht öffentlich geworden.
Private Momente der Entspannung seien, wenn er und Ernst an den wenigen gemeinsamen Abenden füreinander kochen; wenn er Zeit finde zum Joggen oder zum gemeinsamen Spaziergang, berichtete Scholz einmal im Interview-Podcast "Hotel Matze". Dass Scholz leidenschaftlich und viel liest, ist ebenfalls bekannt. Der 63-Jährige entspannt sich mit Büchern, gerne auch aus den Bereichen Philosophie, Soziologie und Ökonomie. Viel mehr Privates hat er nicht preisgegeben, und es könnte sein, dass es auch nicht viel mehr Interessantes gibt. Angesichts des Arbeitspensums eines Bundesministers und Spitzenvertreters einer deutschen Volkspartei bleibt keine Zeit für Hobbys und Eskapaden.
Kein Kumpeltyp
Dieses fokussierte, nüchterne Politikerdasein, gelebt von einem stets fokussiert auftretenden und nüchtern argumentierenden Politiker, verleiht Scholz die Aura eines Emotionslosen und Unnahbaren. In seiner Zeit als SPD-Fraktionsgeschäftsführer von 2005 bis 2007 war Scholz derart oft Profi und so selten persönlich, wenn er öffentlich sprach, dass er den Spottnamen "Scholzomat" verpasst bekam. Dem Vernehmen nach soll ihm der Name verhasst sein. Er wird Scholz auch nicht gerecht, weil er mit den "normalen Leuten" tatsächlich kann. Er kann ihnen zuhören, auf das Gesagte eingehen und lächeln. Ihre Probleme lassen ihn nicht kalt, im Gegenteil. Aber Ankumpeln, ihre Sprache sprechen, mit ihnen Bier trinken, wie es etwa Gerhard Schröder gern vor laufender Kamera machte, das ist nicht so Scholz' Fall.
Scholz sieht sich eher in der Tradition von Helmut Schmidt, dem ebenfalls betont sachlich auftretenden früheren Hamburger Innensenator und späteren SPD-Bundeskanzler. Die Parallelen sind offensichtlich. Auch Schmidt konnte weder mit Utopien noch mit Fatalisten etwas anfangen, weshalb sich Schmidt mit den damals neuen Grünen genauso schwertat wie Scholz jüngst in einem Streitgespräch mit zwei Klimaaktivisten. Als Regierungschefs - Schmidt in Bonn, Scholz in Hamburg - haben beide ihre Parlamentsfraktionen zuweilen spüren lassen, wer Koch und wer Kellner ist. Scholz genießt die eigene Gewissheit, der Klügste im Raum zu sein- oder strahlt das zumindest aus. Er wird nicht laut, wenn er scharf kritisiert oder persönlich wird. Beides wird auch über Schmidt berichtet.
Echte Erfolge und zu Recht kritisiert
Was beide ebenfalls verbindet: ihr zupackender Pragmatismus. Scholz hat Erfolge vorzuweisen, er hat Dinge zu Ende gebracht, die er sich vorgenommen hat. In Hamburg wurde das aus dem Ufer geratene Projekt Elbphilharmonie doch noch zum Erfolg, und beim Thema Wohnungsbau hat die Stadt vieles richtig gemacht, was praktisch alle anderen deutschen Metropolen unterlassen haben. Als Arbeitsminister setzte Scholz den Mindestlohn ins Gleis, aus seiner Zeit als Bundesfinanzminister dürften vor allem die EU-Kredite zur gemeinsamen Bewältigung der Corona-Krise und die Einigung auf einen globalen Mindestsatz bei der Unternehmenssteuer bleiben. Mit der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags ist Scholz' Projekt eines 12-Euro-Mindestlohns so gut wie in trockenen Tüchern.
Dass Scholz' Karrierepfad auch Fehler und Niederlagen pflastern, hat die SPD während des Bundestagswahlkampfes geschickt als unvermeidlichen Beifang deklariert, wenn Politiker Erfahrung und Kompetenz mitbringen sollen. Da sind Fehler, die er selbst öffentlich bereut hat, wie seine Handhabung des G20-Gipfels in Hamburg. Da sind Affären wie der CumEx-Skandal, bei dem der Vorwurf im Raum steht, er habe als Erster Bürgermeister Anteil daran, dass die Steuerbehörde der Stadt die Warburg-Bank trotz betrügerischen Deals verschonte. Für den Vorwurf sprechen nicht nur Indizien, sondern auch, dass es aus Hamburger Sicht plausible Standortpolitik war, eine mögliche Pleite des einflussreichen Geldinstituts zu verhindern.
In den SPD-Jahren der langen Messer war Scholz ebenfalls kein Kind von Traurigkeit, als Macht und Einfluss in der Bundespartei teils rabiat ausgefochten wurden. Die so brutal gestürzte Andrea Nahles, mit der Scholz gut konnte, will er offenbar mit einem ordentlichen Amt rehabilitieren. Linken war Scholz zudem lange verhasst wegen des Einsatzes umstrittener Brechmittel durch die Hamburger Polizei, mittels derer kleine Dealer heruntergeschluckte Drogenpäckchen auskotzen sollten. Man darf annehmen, dass Scholz manche Fehler nicht als solche betrachtet und aus anderen gelernt hat. Erfahrung und Kompetenz lauten die Stichwörter, nicht nur in der Bundestagswahlkampagne der SPD.
Scholz kommt fertig ins Amt
Wenn vor Scholz' Kanzlerwahl immer wieder der Vergleich zu Angela Merkel gezogen wird, gilt festzuhalten, dass der Vergleich nur der späten, der erfahrenen Merkel standhält. Scholz kommt schon fertig ins Amt. Merkel war bei ihrer Wahl zur Kanzlerin nicht nur an Jahren ärmer als Scholz. Zwar konnte sie 2005 auch schon Erfahrung als Bundesministerin und Fraktionschefin im Bundestag vorweisen. Anders als Scholz aber war die in der DDR aufgewachsene Protestantin ihrer eigenen Partei immer ein wenig fremd geblieben; galt noch zu ihrer Wahl ins Kanzleramt als Außenseiterin in ihrer Partei und als Kuriosum in der Bundespolitik.
Scholz dagegen hat eine prototypische, westdeutsche SPD-Karriere hingelegt: ein ehemaliger Schulsprecher in einer Partei voll ehemaliger Schulsprecher, vom aufrührerischen Juso zum Arbeitsrechtsanwalt zum Bundestagsabgeordneten und dann immer weiter hoch die Leiter; unbeirrter Parteisoldat auch in den vielen schweren Krisenjahren der SPD seit 2004. Umso mehr traf ihn, wenn ihm andere Sozialdemokraten absprachen, "truly Sozialdemokrat" zu sein - wie etwa die Co-Vorsitzende Saskia Esken, nachdem sie Scholz zusammen mit Norbert Walter-Borjans im Mitgliederentscheid den Parteivorsitz weggeschnappt hatte.
Sein bester Move
Es könnte die wichtigste Entscheidung in Scholz politischer Laufbahn gewesen sein, dass er sich im Spätherbst 2019, nach seiner deutlichen Niederlage im Rennen um den Parteivorsitz, nicht bockig zurückgezogen oder auf die erstbeste Gelegenheit zum Sturz der beiden Neuen gelauert hat. Stattdessen ließ er sich ein auf die Eskens, Nowabos und Kevin Kühnerts, die einen von der Basis getragenen Kurs links seiner eigenen Agenda verfolgten. Dass dieses Lager schließlich zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit Scholz fand, so sehr, dass sie Scholz die Kanzlerkandidatur antrugen, schien ursprünglich mindestens unwahrscheinlich. Und es hätte wohl auf Dauer nicht funktioniert, wenn Scholz' Zugehen auf die Parteilinken rein taktischer Natur gewesen wäre.
Scholz ist sich in seiner Sachlichkeit, seiner Arbeitswut und auch in seinem Ehrgeiz treu geblieben. Er führt gerne von vorn, weil er das so irritierende wie wohl nötige Selbstbewusstsein dazu hat - und bis zur Selbstaufgabe vorangeht. "Wer Führung bestellt, der kriegt sie auch", hat Scholz' angekündigt. Das heißt aber nicht, dass er allein die Richtung vorgeben kann. Scholz hat verstanden, dass er anderen Raum zum Glänzen geben muss. Führung nach dem Basta-Prinzip funktioniert auch in der Politik immer weniger; die Dinge sich einfach entwickeln zu lassen allerdings auch nicht.
Jedoch werden die Koalitionäre von nicht minder selbstbewussten Alphatieren geführt, die ihre eigenen Überzeugungen und ihren ganz eigenen Erfolgsdruck haben. Lindner und Habeck zum Beispiel fragen allenfalls nach Moderation und bestellen keine Führung. Es ist aber davon auszugehen, dass Scholz weder die Größe der Aufgaben noch die sich abzeichnenden Koalitionsstreits abschrecken. Sie reizen ihn.
Quelle: ntv.de