"Alljährliches Trauma" Gewalt in Somalia nimmt zu, UN ziehen Truppen trotzdem ab
28.06.2023, 18:00 Uhr Artikel anhören
Türkische Soldaten bilden in Mogadischu Mitglieder der somalischen Armee aus.
(Foto: picture alliance / AA)
Die Kampffähigkeit der brutalen Al-Shabaab-Miliz in Somalia nimmt zu. Dennoch planen die Vereinten Nationen den Abzug der Friedenstruppen. Die Menschen fürchten sich vor einer Zunahme der Gewalt.
Es ist wie ein blutiges Ritual: Jedes Jahr im Juni dringen bewaffnete Kämpfer der islamistischen Miliz Al-Shabaab aus Somalia über die Grenze in die kleinen Dörfer in Kenia ein und massakrieren dort Menschen. So auch am vergangenen Sonntagabend. Fotos von den Tatorten in den Dörfern Juhudi und Salama im Verwaltungsbezirk Lamu zeugen von einem äußerst brutalen Vorgehen: Fünf männliche, gefesselte Leichen liegen im Gras. Ihnen wurden offenbar mit stumpfen Messern die Köpfe abgeschnitten.
Das erste Massaker in dieser Küstenregion geschah am 16. Juni 2014, also vor fast genau neun Jahren, berichtet Monica Wangui. Die 26-jährige Kenianerin arbeitet in der örtlichen Bezirksverwaltung von Lamu. Damals töteten bewaffnete Männer der Al-Shabaab-Miliz mindestens 60 Menschen. Schulen, Polizeistationen und die Häuser der Bewohner wurden niedergebrannt. "Jedes Jahr, wenn wir im Juni den Toten von 2014 gedenken, werden wir wieder angegriffen", sagt sie: "Es ist wie ein alljährlich wiederkehrendes Trauma."
Der seit 30 Jahren andauernde Konflikt in Somalia lässt die Menschen in Ostafrika und dem Horn von Afrika nicht in Ruhe, im Gegenteil. Die jüngste Attacke in Lamu zeugt davon, dass die berüchtigte Al-Shabaab-Miliz wieder mehr Kapazitäten zur Verfügung hat, um wieder jenseits der somalischen Grenzen zuzuschlagen. Teile der somalischen Al-Shabaab haben sich jüngst der internationalen Kommandostruktur des Islamischen Staates untergeordnet. Von Somalia aus koordinieren sie jetzt die IS-Aktionen in ganz Ost- und Zentralafrika. Ein UN-Ermittlungsbericht lieferte zu Beginn der Woche Beweise dafür, dass Al-Shabaab ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung hat: Innerhalb von nur einem Jahr transferierten deren Kommandeure aus Somalia 400.000 Dollar an ihre verbündete Bruder-Miliz ADF, die "Vereinigten Demokratischen Kräfte" in der Demokratischen Republik Kongo, so der jüngste UN-Bericht zur Lage im Kongo.
Somalische Armee soll allein für Sicherheit sorgen
Bislang gingen Experten davon aus, dass die Schlagkraft der Miliz durch die Militäroperationen gegen sie deutlich geschwächt sein müsste. Seit 2007 bekämpften internationale Soldaten im Rahmen einer von der Afrikanischen Union (AU) aufgestellten und vom UN-Sicherheitsrat autorisierten Friedensmission, der AMISOM, die Al-Shabaab. Truppensteller waren zunächst Uganda und Burundi, später kamen auch kenianische und äthiopische Soldaten dazu. Vergangenes Jahr entschied die AU jedoch, eine Übergangsphase einzuleiten und die militärische Hoheit schrittweise der regulären somalischen Armee zu übergeben. Diese einst im Bürgerkrieg zerfallenen Kampfverbände wurden in den vergangenen Jahren von internationalen Ausbildern, darunter auch deutschen Offizieren, fit gemacht.
Um das eigene Land wieder selbst verteidigen zu können, verlangte Somalias Präsident Hassan Sheikh Mohamud vergangene Woche im UN-Sicherheitsrat, dass das im Jahr 1992 verhängte internationale Waffenembargo gegen sein Land vollständig aufgehoben wird. "Dadurch werden wir in die Lage versetzt, unsere Souveränität zu behaupten, den Terrorismus wirksam zu bekämpfen und eine friedliche und erfolgreiche Zukunft für unsere Nation aufzubauen", betonte er.
Kompletter Abzug bis Ende 2024
Etappenweise sollen bis Ende 2024 also alle regionalen Truppen abziehen und Somalias Militärs dann allein für Sicherheit sorgen, so der Plan. Die AMISOM-Mission umfasste einst knapp 20.000 Soldaten, jetzt sollen ab Ende Juni im Rahmen der Übergangsmission ATMIS (African Union Transition Mission in Somalia) nur noch 2000 Soldaten übrigbleiben. Bis Ende 2024 sollen auch diese endgültig abziehen.
Die truppenstellenden Länder wie Uganda und Burundi fiebern diesem Abzug entgegen. Sie haben in den vergangenen Jahren in Somalia immer wieder blutige Verluste hinnehmen müssen. Erst Anfang Juni überfiel die Al-Shabaab eine ugandische Armeebasis und tötete mit einer Bombe versteckt in einem Fahrzeug 54 ugandische Soldaten. Oppositionelle in Uganda forderten daraufhin einen sofortigen Truppenabzug.
Vergangene Woche debattierte der UN-Sicherheitsrat in New York über den Abzug. Um die Al-Shabaab noch einmal deutlich zu schwächen, erklärte ATMIS-Chef Mohamed Souef dem UN-Sicherheitsrat, dass er die Militärmission gerade umstrukturiere. Zahlreiche Militärbasen würden der somalischen Armee übergeben. Dies schaffe Kapazitäten, dass die AU-Friedenstruppen, darunter vor allem kenianische und äthiopische Verbände, in kleinen Spezialeinheiten in einer nächsten militärischen Offensive noch einmal gezielt gegen die Al-Shabaab vorgehen.
Kämpfe und Klimawandel
In derselben UN-Sitzung warnte Catriona Laing, UN-Sonderbeauftragte für Somalia sowie Chefin der UN-Hilfsmission für Somalia UNSOM (United Nations Assistance Mission in Somalia) vor den Herausforderungen eines Rückzugs. Sie fordert von allen internationalen Partnern, "sich zu beteiligen und den Menschen zusätzliche Unterstützung zukommen zu lassen". Gemeint ist damit auch die humanitäre Hilfe. Fast die Hälfte der somalischen Bevölkerung leidet aufgrund des voranschreitenden Klimawandels und der katastrophalen Sicherheitslage an Hunger, weil sie kaum selbst etwas anbauen. Von März bis Juni sei erneut die Regenzeit am Horn von Afrika ausgefallen, meldet das UN-Welternährungsprogramm WFP und warnt: "Um eine humanitäre Katastrophe abzuwenden, ist sofortiges Handeln erforderlich."
UN-Sonderbeauftragte Laing verwies in ihrem Bericht im UN-Sicherheitsrat zudem auf die zunehmende Gewalteskalation in den Regionen Somaliland und Puntland. Die beiden Regionen haben sich 1998 im Zuge des Bürgerkrieges von Somalia unabhängig erklärt. Bislang war es in den beiden quasi-autonomen Teilrepubliken meist friedlicher als in Somalia selbst. Jetzt kommt es auch dort zu politischen Konflikten, die gewaltsam ausgetragen werden. Erst vergangene Woche wurden acht Menschen bei Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und bewaffneten Milizen der Opposition vor dem Parlament getötet. In Puntland sollen nun eigene Präsidentschaftswahlen abgehalten werden.
All diese Entwicklungen machen der Kenianerin Monica Wangui in Lamu sorgen. Erst vergangene Woche hat Kenias Innenministerium den Grenzübergang in Lamu nach Somalia wieder geöffnet, um nach zwölf Jahren Grenzschließung aus Sicherheitsgründen den grenzüberschreitenden Handel wieder in Gang zu bringen. "Über diese offenen Grenzen sehen wir jetzt auch unsere kenianischen Soldaten zurückkehren", berichtet Wangui. "Die Menschen hier sind sehr verärgert über unsere Regierung, weil sie uns nicht zu schützen vermag."
Quelle: ntv.de