Gressel zur Taurus-Debatte "Hart verteidigte Ziele kann man nur mit Marschflugkörpern angreifen"
27.08.2023, 15:48 Uhr Artikel anhören
Ein Tornado der Luftwaffe, bestückt mit dem Lenkflugkörper Taurus.
(Foto: picture alliance/dpa/Bundeswehr)
Die Ukraine bittet um Taurus-Marschflugkörper, doch Berlin zögert weiterhin. Warum die EU ihre Waffen zu langsam produziert, und was das mit der Größe des schwedischen Königs zu tun hat - Militärexperte Gustav Gressel im Interview.
ntv.de: Herr Gressel, aus dem Kanzleramt hieß es diese Woche, man spüre trotz der F-16-Zusage aus Dänemark und den Niederlanden keinen Druck, sich zu entscheiden, ob Deutschland der Ukraine mit Marschflugkörpern vom Typ Taurus helfen will. Wie bedeutsam wäre Taurus für die ukrainische Gegenoffensive?
Gustav Gressel: Aus der Sicht des Kanzleramts sind F-16 und Taurus zwei Paar Schuhe. Das Kanzleramt schaut zudem einzig und allein auf die USA. Was europäische Alliierte tun, berührt den Kanzler selten. Das war in der Panzerfrage schon so und wiederholt sich jetzt. Olaf Scholz schaut nur auf Washington.
Eine Mehrheit der Deutschen äußert sich auch zögerlich zu einer Taurus-Lieferung.
Eine Taurus-Lieferung wäre im Grunde nichts anderes als weitere Marschflugkörper aus derselben Klasse wie die schon von Großbritannien gelieferten Storm Shadow und die französischen SCALP, die Unterschiede sind marginal. Die Ukrainer setzen diese Art von Munition sehr erfolgreich ein, vor allem geht es darum, den russischen Nachschub zu erschweren, indem man Infrastruktur angreift. Es geht aber auch um verbunkerte Kommandostellen. Mit Angriffen darauf kann man die Führung der russischen Streitkräfte unterbinden. Ziel für die Marschflugkörper sind außerdem sehr hochwertige Waffensysteme wie S 400.

Gustav Gressel ist Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations (ECFR). Er ist Experte für Russland und Osteuropa, Militärstrategie und Raketenabwehr.
(Foto: seesaw-foto.com)
Die Boden-Luft-Langstreckenraketen?
Solche sehr hochwertigen Ziele schalten die Ukrainer mit Marschflugkörpern aus, und das recht erfolgreich schon seit Monaten.
In dem Sinne würde Taurus qualitativ nichts ändern?
Qualitativ nicht, es würde mehr Munition zur Verfügung stehen. Und das wäre wichtig, denn die erste Lieferung französischer SCALP ist schon aufgebraucht, und die Briten haben auch nicht horrend viele Storm Shadow im Arsenal.
Welchen Vorteil haben die Marschflugkörper gegenüber den Raketen ähnlicher Reichweite aus den USA?
Die amerikanischen Waffensysteme, die zum Teil ähnliche oder etwas kleinere Reichweiten bedienen, sind einzig und allein GPS gelenkt. Also HIMARS …
… - die Mehrfachraketenwerfer, die in der Herbstoffensive sehr erfolgreich eingesetzt wurden - …
oder auch Lenkbomben wie JDAM und GLSDB arbeiten alle mit GPS. Die Russen können dieses Zielsystem leider inzwischen mit Störsendern beeinträchtigen, sodass die Lenkwaffen ihr Ziel verfehlen. Die Russen haben nicht so viele Störsender, aber sehr wichtige, von den Russen hart verteidigte Ziele kann man tatsächlich nur mit Marschflugkörpern angreifen.
Wie werden die gelenkt?
Die haben vorn eine Infrarotkamera mit einem intelligenten Suchkopf und finden ihre Ziele auch ohne GPS. Sie sind also weniger anfällig für die russischen Abwehrmaßnahmen.
Wie schnell könnte Deutschland Taurus überhaupt liefern?
Das kommt darauf an, ob man den Marschflugkörper technisch modifizieren will oder nicht. Da alle drei Systeme, also Taurus, Storm Shadow und SCALP, vom selben Mutterkonzern produziert werden, MBDA, kann man davon ausgehen, dass viele interne Teile dieser Flugkörper dieselben sind oder sich sehr ähneln. Auch viele Zulieferer sind die gleichen. Die technischen Details kenne ich aber nicht ausreichend, und solange keine politische Freigabe erfolgt, ist das alles Spekulation.
Wir diskutieren noch über die aktuelle Offensive, dabei müsste man bei den langen Vorlaufzeiten für Rüstungsgüter schon die nächste Offensive im Blick haben oder? Was muss dafür jetzt passieren?
Der Material-Nachschub muss anwachsen. In der Qualität sind wir schon dort, wo wir hinmüssen. In der Quantität sind wir das noch lange nicht. Bei Material und Munition muss sich immer noch viel verbessern. Wir müssen uns auf einen langen Krieg einstellen. Darum bräuchte es jetzt dringend eine industrielle Durchplanung mit der Rüstungsindustrie: Wie viele Stückzahlen brauchen wir, um Produktionszahlen zu steigern, um die Lieferzeiten zu verkürzen? Welche Vorlaufzeiten, welche Finanzierungen, welche Bestellungen, um wirklich größere Abgaben in größeren Mengen organisieren zu können? Das passiert nicht.
Sondern?
Die Tschechen bestellen jetzt Leopard II, die Norweger auch. Aber viele europäische Staaten halten sich zurück. Finnland hat keine Bestellungen aufgegeben, obwohl man einige Fahrzeuge hätte, die man abgeben könnte. Spanien hat nicht bestellt, obwohl Madrid auch eine Abgabe organisieren könnte. Da frage ich mich: Wie stellt ihr euch das perspektivisch vor? Es fehlt die langfristige Planung.
Aber dafür trifft sich doch die Ukraine-Kontaktgruppe beinahe monatlich in Ramstein.
Das Ramstein-Format hat das Problem, dass jeder Staat in seinem eigenen Bestand schaut, was er abgeben kann. Dann werden hier vier Panzer zugesagt und da zwölf LKW, aber das sind alles freiwillige Einzelspenden, kurzfristig und kleinteilig, und auch die werden immer weniger. Weil Europa kein hochgerüsteter Kontinent ist. Und nach 18 Monaten Krieg schmelzen die Bestände dahin. Man muss neu beschaffen und zwar in großen Stückzahlen.
Darin hat Europa keine Routine?
Normalerweise wird in Europa Rüstungsgerät in homöopathischen Dosen und in jeweiligen nationalen Subvarianten beschafft. Als Beispiel: Vom Transporthubschrauber NH 90 gibt es mittlerweile mehr Varianten, als es Nationen gibt, die ihn nutzen. Jeder will seine Subvariante.
Welcher Art zum Beispiel?
Funkgeräte des eigenen Herstellers zum Beispiel oder irgendein anderes Untergerät. Die kurioseste Subvariante hat sich Schweden bestellt: extra hohe Türen. Dafür muss die Zelle verändert werden, weil dieser besonders hohe Ausschnitt aus der Zelle die strukturelle Integrität des Hubschraubers besonders belastet. Man muss dafür an anderer Stelle die Zellstruktur erheblich versteifen. Das hat Konsequenzen für den Schwerpunkt, für das Flugverhalten, für die Flugsteuerung, die man umprogrammieren muss, speziell für diese schwedische NH 90-Subvariante, die sich am Ende ganz erheblich von anderen NH 90-Helikoptern unterscheidet.
Warum betreibt Schweden diesen enormen Aufwand?
Weil der schwedische König, der im Helikopter transportiert wird, ein groß gewachsener Mensch ist und es ein schlechtes Bild abgibt, wenn er gebückt oder mit gesenktem Haupt aus dem Hubschrauber aussteigt.
Ihr Ernst?
Es hat mehrere Jahre der Verzögerung der Beschaffung des schwedischen NH 90 gekostet, diesen Hubschrauber königsgerecht auszuführen. Und wenn die europäischen Staaten diese Beschaffungsroutine fortsetzen und glauben, auch in Zeiten eines Krieges könnten sie sich das weiter so erlauben, dann muss ich leider sagen, da hat man sich geschnitten. Das geht so nicht mehr.
Noch sehen Sie diese Haltung in den Regierungen?
Das ist immer noch Goldrand und Königshelikopter, ja. Ich bin immer wieder schockiert, wenn ich mit nationalen Hauptstädten oder den entsprechenden Verteidigungsministerien rede. In deren Rahmen wird versucht, das Richtige zu tun. Aber noch immer ist alles zu kleinteilig und nicht mit den Nachbarn abgesprochen. Dadurch könnte man so viel Zeit gewinnen.
Weil die Ukraine Stück für Stück auf westliche Waffen umstellt, wird sie in Zukunft immer abhängiger von Lieferungen der passenden Munition - also aus dem Westen. Wird das zum Problem?
Ich mach mir schon Sorgen. Ich glaube zwar nicht, dass diese Problematik kriegsentscheidend wird, weil ich auch sehe, wie viele Probleme die Russen haben. Auch dort sind Dinge, die man sich in Moskau einfach vorgestellt hat, langfristiger und komplizierter.
Hätten Sie ein Beispiel dafür?
In diesem Sommer mangelt es den Russen akut an Kampfpanzern, an Schützenpanzern, an Panzerabwehrwaffen. Die Rüstungsindustrie hat große Schwierigkeiten, die Bestellzahlen zu erfüllen, weil einfach Subkomponenten aus dem Westen fehlen.
Klingt gut.
Wir sehen aber auch, dass man bei den Lenkwaffen, den Marschflugkörpern das Tal der Trauer schon durchschritten hat, dass die russischen Produktionszahlen in dem Sektor wieder steigen.
Wie gelingt das?
Man findet Substitute, die westliche Komponenten ersetzen können, oder Wege, westliche Technik über Schmuggelquellen zu importieren.
Das klingt, als gäbe es da schon erprobte Wege und Mittel.
Iran, Nordkorea und Russland sind die erfahrensten Waffenschmuggler und Sanktionsbrecher, die man auf diesem Planeten findet. Selbst zu Zeiten, als der Iran schon unter internationalen Sanktionen stand, gab es Lieferungen von Waffen, von Waffensystemen, von Subsystemen für den Waffenbau aus Russland und aus China.
Wie haben die Länder das organisiert?
Das wurde über Nordkorea geschickt und als zivile Lieferung getarnt. UN-Sanktionen oder Abrüstungsverträge waren noch nie ein Hindernis für Russland, irgendjemandem Waffen zu liefern. Das musste dann nur besser getarnt werden. Jetzt laufen diese Netzwerke und diese Schmuggelbeziehungen einfach in die andere Richtung.
Wir waren noch bei Ihren Sorgen bezüglich der schleppenden Munitionsproduktion in der EU.
Meine Hauptsorge ist, dass es durch solche Faktoren für die Ukraine unnötig blutig wird. Jeder Mangel an Material muss durch den Einsatz von Soldaten wettgemacht werden. Und diese Soldaten sind normale Mitglieder der ukrainischen Gesellschaft. Das sind Lehrer, Familienväter, Altenpfleger, Rechtsanwälte, die nicht mehr nach Hause kommen werden. Weil wir in Europa Waffenlieferungen nicht auf die Reihe bekommen.
Neben der Solidarität mit dem angegriffenen Land - wie stark ist auch das Eigeninteresse der EU-Staaten davon berührt, wenn die Ukraine auf diese Art geschwächt wird?
Im Interesse Europas wäre ein möglichst starker, lebensfähiger ukrainischer Staat, der in einem möglichst geringen Maße finanziell abhängig ist vom Westen, auch von der EU. Die müsste sich eigentlich dafür einsetzen, dass dieser Krieg für die Ukraine möglichst schnell und eindeutig gewonnen wird. Das würde die Verluste an Menschen, an wirtschaftlichen Ressourcen in Grenzen halten. Die Ukrainer hätten nach dem Krieg das Selbstvertrauen und die Gewissheit, dass Frieden dauerhaft ist und es sich lohnt, das eigene Land aufzubauen und nicht Zuwendungsgelder irgendwo nach Warschau, Wien oder Berlin umzuleiten, um sich dort ein sicheres Standbein zu schaffen, falls der Krieg in zwei, drei Jahren wieder weitergeht. Jede Million, die wir jetzt nicht ausgeben für Rüstungsgerät, die müssen wir dann in Milliarden vorschießen, wenn es um Wiederaufbau und um Sicherheitsgarantien gehen wird. Das wäre mit Blick auf die eigene Finanzlage nicht sehr weise und nicht sehr vorausschauend gedacht.
Mit Gustav Gressel sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de