Schlappe bei Kommunalwahlen Ist dies der Anfang von Erdogans Ende?
01.04.2019, 16:26 Uhr
Erdogans AKP bleibt die stärkste Kraft in der Türkei. Doch selbst Istanbul, wo die Karriere des Präsidenten ihren Anfang nahm, ist ihm nicht mehr sicher. Erdogan muss sich etwas einfallen lassen.
Stundenlang passierte nichts. Am Mittag nach der Kommunalwahl aktualisierte die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu dann endlich ihre Wahlkarte. Und plötzlich war Istanbul rot. Erdogan, das zeichnet sich immer deutlicher ab, muss nicht nur ein paar verlorene Provinzen verkraften, sondern den Verlust der bedeutsamsten Stadt des Landes.
Istanbul ist nicht nur die bevölkerungsreichste Metropole, sie ist auch nicht nur das ökonomische Herz der Türkei. Sie ist das symbolische Machtzentrum des Präsidenten. Insbesondere dieses Präsidenten.
Erdogan wuchs im Viertel Kasimpasa auf. Bevor er den Sprung auf die nationale Bühne schaffte, arbeitete er sich in der Kommunalpolitik der Metropole am Bosporus nach oben, war jahrelang ihr Oberbürgermeister. "Wer Istanbul gewinnt, der gewinnt die Türkei." Erdogans Werdegang ist ein Beleg für diesen Spruch. Deswegen bemühte er ihn auch gern im Wahlkampf. Jetzt stellt sich die Frage, ob sich auch das Gegenteil bewahrheitet: "Wer Istanbul verliert, verliert die Türkei."
Erdogan hatte für Istanbul alles aufgefahren
Von einem Verlust der Türkei ist Erdogan noch weit entfernt. Seine Partei AKP ist mit 44 Prozent weiterhin die stärkste Kraft im Lande. Ihre Kandidaten errangen laut den jüngsten vorläufigen Ergebnissen zum Wahlausgang 15 Großstädte, 24 Provinzen und 536 Distrikte. Die stärkste Oppositionspartei CHP kam nur auf 30 Prozent, 11 Großstädte, 10 Provinzen und 192 Distrikte. Erdogans Wahlallianz mit der ultranationalistischen MHP hat auch weiterhin eine Mehrheit. Doch die Gegner Erdogans schöpfen wieder Hoffnung, dass sie dem unaufhaltsam erscheinenden Machtausbau des Präsidenten zumindest nicht hilflos entgegenstehen.
Erdogan hat in Istanbul alles aufgefahren, was möglich war. Er war persönlich omnipräsent im Wahlkampf. Und das, obwohl er mit Binali Yildirim, dem ehemaligen Ministerpräsidenten, bereits einen absoluten Hochkaräter ins Rennen um das Bürgermeisteramt geschickt hatte. In keiner anderen Stadt buhlte er zudem mit derart vielen und vor allem teuren Prestigeprojekten um die Gunst seiner Anhänger. Die prominentesten Beispiele: der neue Flughafen und die neue Bosporus-Brücke. Den gesamten Wahlkampf überlagerte zudem, dass Erdogan bei seinen Auftritten im ganzen Land so aggressiv wie nie zuvor auftrumpfte. Selbst den Terroranschlag in Neuseeland nutzte er, um den Wahlkampf mit religiösen Fragen aufzuladen. Und es reichte für Istanbul wohl trotzdem nicht.
Erdogan droht der Verlust Istanbuls angesichts einer immer entschlossener auftretenden Opposition. Diese ist mittlerweile zu politischen Experimenten bereit, die vor einigen Jahren noch undenkbar erschienen. Die kurdische HDP, die jahrelang verstärkt um die urbanen liberalen Wähler in den westlichen Großstädten buhlte, stellte dieses Mal im Westen oftmals keine eigenen Kandidaten auf. So sollten die Chancen eines Machtwechsels durch die CHP steigen. Das funktionierte offenbar in Istanbul. Und die Kurden machten dabei auch in der Hauptstadt Ankara keine Ausnahme – obwohl der dortige CHP-Kandidat Mansur Yavas seine politische Laufbahn in den Reihen der ultranationalisischem MHP begann, dem politischen Gegenpol der Kurden. Yavas gewann Ankara, nachdem die Stadt mehr als 25 Jahre in den Händen der AKP und ihrer Vorgängerparteien lag. Erdogan droht der Verlust Istanbuls aber nicht nur wegen einer gewieften Opposition.
Erdogan ist unter Zugzwang
Am häufigsten ist in Istanbul, aber auch im Rest des Landes zu hören, dass die Menschen eine überzeugende Antwort auf die verheerende wirtschaftliche Lage des Landes erwarten. Erdogans Aufstieg war eng verknüpft mit besseren Lebensbedingungen für eine große Zahl von Türken. Doch mittlerweile gilt: Noch nie in seiner nunmehr fast 20-Jährigen Regentschaft ging es dem Land so schlecht wie jetzt. Erdogan macht dafür gern "fremde Mächte" aus dem Ausland verantwortlich und nährt Verschwörungstheorien. Doch immer weniger Menschen scheinen ihm das zu glauben. Das gilt insbesondere für Istanbul - die Metropole, die auch so etwas wie die Türkei unter dem Brennglas ist. Das kann Erdogan kaum an sich abperlen lassen.
Sollte Erdogan Istanbul tatsächlich verlieren, steht er vor einer ganzen Reihe neuer Herausforderungen. Bewährte Taktiken auf kommunaler Ebene kann er dort nicht einsetzen. Der Staatsführung wird oft vorgeworfen, dass sie Gemeinden, die in Oppositionshand liegen, finanziell aushungert, um die dort Regierenden ohnmächtig und unfähig dastehen zu lassen. Das ist im Falle Istanbuls unmöglich, ohne verheerenden Schaden für die ohnehin schwer gebeutelte türkische Wirtschaft anzurichten. Erdogan muss sich offensichtlich auch etwas anderes einfallen lassen als immer neue Prachtbauten und Mammutprojekte aus dem Boden zu stampfen. Denn daran hat es in den vergangenen Jahren sicher nicht gefehlt. Erdogans jüngste Amtszeit als Präsident hat zwar gerade erst begonnen. Die nächsten Wahlen sind für 2023 angesetzt. Der Druck auf ihn ist jedoch schon jetzt so groß wie wohl noch nie.
Quelle: ntv.de