Politik

Erbe des scheidenden Premiers "Johnson operierte als brillanter Rattenfänger"

"Ein Johnson kam nicht über Nacht, er kam auch nicht allein", sagt Albrecht von Lucke.

"Ein Johnson kam nicht über Nacht, er kam auch nicht allein", sagt Albrecht von Lucke.

(Foto: dpa)

Mit Johnsons Rückzug endet eine turbulente Ära. Den Tory aber nur als unseriösen Hallodri in Erinnerung zu behalten, bedeute eine Verharmlosung, erklärt Publizist Albrecht von Lucke im ntv-Interview. Vor allem beim Brexit habe sich seine ganz große Begabung gezeigt: "Er war von Beginn an ein Spieler."

ntv: Sie blicken als Beobachter von außen auf das Geschehen in London. Was sind Ihre Gedanken mit Blick auf die Situation, die wir derzeit in London erleben?

Es ist mittlerweile ein aberwitziger Zustand. Wir müssen uns bewusst machen: Seit Jahren treibt diese Regierung von Johnson von einer Krise in die nächste. Es gab ja fast keinen Zeitpunkt, zu dem seine gar nicht so lange Amtszeit nicht krisengeschüttelt war.

Albrecht von Lucke ist Publizist und schreibt für die "Blätter für deutsche und internationale Politik".

Albrecht von Lucke ist Publizist und schreibt für die "Blätter für deutsche und internationale Politik".

Johnson gilt ja in den Augen vieler Europäer als Hallodri, als unseriöse, eitle Figur, die sich selber mit Churchill vergleicht, die im Corona-Lockdown mit Mitarbeitern in der Downing Street feiert. Ist das fair gegenüber Johnson und seiner Regierung?

Ich glaube, das Bild, das Sie zeichnen, impliziert eine Verharmlosung der Tatsachen. Johnson hat ein großes Faible für Churchill - er hat auch eine Churchill-Biografie geschrieben, auch um sich gewissermaßen in dessen Traditionslinie einzuschreiben. Mit seiner Haltung zum Angriffskrieg Russlands versuchte er das noch einmal, um außenpolitisch Kredit zu gewinnen, indem er sich klar an die Seite der Ukraine stellte. Aber um es sehr deutlich zu sagen: Im Kern ist Johnson das regelrechte Gegenbeispiel eines Churchill. Das, was er immer für sich reklamierte, dann auch Stehvermögen zu haben, hat ihn von Anfang an eigentlich nie getragen. Er war von Beginn an ein Spieler.

Wie meinen Sie das?

Erinnern wir uns, wie er Großbritannien zum Brexit geführt hat. Er tat dies aufgrund einer ganz einfachen taktischen Überlegung. Cameron, sein Freund und früherer Mitstudent aus der gleichen elitären Verbindung, war für den Verbleib in der EU. Er hat dagegen klar gegen die EU gewettet - und zwar, weil er die Hoffnung hatte: Dann bin ich in der Lage, Premier zu werden. Und das ist natürlich, das muss man leider feststellen, seine ganz große Begabung. Er hat - und man will den Begriff ja gar nicht verwenden, weil es sich nicht schickt, Menschen als Tiere zu bezeichnen -, aber er hat als brillanter Rattenfänger eines neuen Populismus operiert.

Was wird von Johnson bleiben?

Viele seiner Getreuen haben jetzt das sinkende Schiff verlassen. Aber wie viele sind ihm auch treu bei der Fahne geblieben? Das ist das Faszinosum eines Mannes, der aber letztlich für Großbritannien den Ausstieg aus der EU zu verantworten und übrigens auch mit ganz großer Wahrscheinlichkeit bewirkt hat, dass Schottland möglicherweise im nächsten Herbst Großbritannien verlassen wird. Er hat maßgeblich dazu beigetragen, ein Großbritannien zu einem kleinen Großbritannien zu schrumpfen. Das dürfte das verheerende Erbe von Boris Johnson sein. Und ich glaube, es wird zu einem gewaltigen Nachdenken auf der Insel führen, wie man in Zukunft weitermachen wird. Es wird noch eine gewaltige Katharsis auslösen. Was ist uns da unterlaufen? Wie haben diese letzten Jahre ausgesehen?

Nehmen wir mal eine europäische Perspektive ein. Wenn Johnson tatsächlich zurücktritt, was würde das bedeuten für das Verhältnis der EU zu Großbritannien, für die Verhandlungen, die ja noch andauern in so vielen Detailfragen im Zusammenhang mit dem Brexit?

Wenn man es positiv betrachtet, dann könnte es insoweit die Möglichkeit eines Neuanfangs bedeuten, dass man zumindest die großen und schwierigen Verhandlungen - Irland, Nordirland, diese Grenzfragen - vielleicht seriöser führt. Bisher hat ja Johnson auch mit der EU ein ständiges Katz-und-Maus-Spiel getrieben. Er hat letztlich alle Vereinbarungen im Schweinsgalopp wieder über den Haufen geworfen. Man kann nur hoffen, dass auf der Insel wieder etwas greift wie eine seriösere Politik. Das könnte dann auch eine gewisse Hoffnung auf einen Neubeginn des Verhältnisses von Großbritannien zur Europäischen Union geben.

Gibt es einen Weg zurück in die EU?

Auch wenn vielleicht jetzt wieder gewisse Hoffnungen aufkeimen: Den Schritt raus aus der Europäischen Union, den hat Großbritannien, getrieben von Johnson und seinen UKIP-Compañeros, wohl endgültig betrieben. Insofern wird man keine Hoffnung haben können, dass das so bald ungeschehen gemacht wird. Denn ich befürchte, das würde dann auch auf der Insel enorme Tumulte auslösen. Aber man kann in jeder Hinsicht hoffen, dass die Verhältnisse besser werden, weil man es im besten Falle wieder mit einem verlässlichen Partner zu tun hat. Aber dafür wird sich insgesamt auf der Insel viel ändern müssen.

Was genau muss sich ändern?

Man muss sich eines bewusst machen: Ein Johnson kam nicht über Nacht, er kam auch nicht allein. Er war natürlich ein Impresario allererster Güte, aber es haben ganz, ganz viele dieses Projekt mitgemacht. Und die große Frage ist, ob es tatsächlich zu dem von mir beschriebenen kathartischen Prozess einer echten Besinnung kommt. Dann könnten die Verhältnisse zwischen Großbritannien und Europa wieder besser werden.

Mit Albrecht von Lucke sprach Daniel Schüler

Quelle: ntv.de

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