
Auch am Sonntag wurde in St. Petersburg demonstriert.
(Foto: picture alliance / NurPhoto)
Die Hoffnung der Ukrainer und ihrer Unterstützerländer ruht auch auf den Russen: Öffentlicher Druck oder gar ein Sturz des kriegsversessenen Präsidenten Putin könnte der Gewalt am ehesten ein Ende bereiten. Es gibt durchaus Anzeichen, dass es dazu kommen könnte.
Brennende russische Panzerwagen springen den Lesern der Online-Ausgabe der "Nowaja Gazeta" von der Startseite direkt ins Auge. Es sind Bilder, wie sie nur oppositionelle Medien in Russland zeigen. Die "Gazeta" als letzte in Russland existente Hochburg oder der aus dem Exil ins Internet sendende Kanal Doschd: Sie berichten von einem Krieg, in dem russische Soldaten sterben und in dem Russland bewohnte Städte beschießt. Städte, deren Namen den Menschen so vertraut sind, wie die russischen: Charkiw, Kiew, Odessa, Mariupol. Nicht nur wegen der gemeinsamen sowjetischen Vergangenheit sind die Beziehungen zwischen Ukrainern und Russen eng.
Diese Art von Bildern des russischen Überfalls auf die auch von Putin als "Brudervolk" bezeichneten Ukrainer sind im Staatsfernsehen nicht zu sehen. Denn nach offizieller Lesart ist Russland ja nicht im Krieg mit der Ukraine, sondern führt nur eine "militärische Spezialoperation" oder einen "Sondereinsatz" aus. Dass der Kreml lediglich gegen eine illegitime Regierung und ein paar Nationalisten im ukrainischen Militär kämpfe, nicht aber gegen die ukrainische Bevölkerung, passt nicht zu den Berichten oppositioneller Medien und der Bilderflut in den sozialen Medien.
Doch "Nowaja Gazeta", "Echo Moskau", Doschd und andere Medien erreichen nur einen Bruchteil der Bevölkerung, die vor allem die eng staatlich gesteuerten Fernsehkanäle verfolgt. "Wer im Internet unterwegs ist- es sind ja einige Seiten oder Social-Media-Anbieter gesperrt oder verlangsamt -, der bekommt das mit", berichtet ntv-Korrespondentin Charlotte Maihoff aus Moskau. Doch das sind eben bei weitem nicht alle Russen, zumal der Kreml nicht nur im Ausland viel Propaganda ins Netz schießt.
Druck auf Demonstranten
Trotz dieses eingeschränkten Zugangs rührt sich seit Beginn des Krieges Protest im Land. In ganz Russland seien mehr als 5900 friedliche Demonstrantinnen und Demonstranten festgenommen worden, teilt die Menschenrechtsorganisation Amnesty unter Berufung auf die russische Menschenrechtsorganisation OVD-Info mit. "Die Russischen Behörden stürzen sich tiefer und tiefer in die Unterdrückung, während die öffentliche Meinung gegen den Krieg wächst", sagt Marie Struthers, Osteuropa-Expertin von Amnesty.
Bei den Protesten sind vor allem junge, internetaffine Menschen zu sehen, die auch andere Informationsquellen als die staatlichen verfolgen. Die letztlich überschaubar gebliebenen Proteste sind auch auf die verschärfte Repression der vergangenen Jahre zurückzuführen: Die Einschüchterung zeigt Wirkung, oppositionelle Strukturen, aus denen heraus sich eine landesweite Friedensbewegung entwickeln könnte, wurden zerschlagen. Nicht auszudenken, was etwa der inhaftierte Kreml-Gegner Alexej Nawalny mit seiner verbotenen Organisation hätte bewegen können.
Bei der Breite der Bevölkerung mag die internationale Empörung über Putins Krieg noch nicht angekommen sein, doch das dürfte sich in der laufenden Woche ändern: Die Finanzsanktionen dürften sich ebenso schnell auf den Alltag auswirken, wie die Sperrung weiter Lufträume für russische Flugzeuge. Auch die breite Suspendierung der russischen Sportler und Vereine, der Wegfall des Champions League Finales und des Formel 1 Rennens sind Entwicklungen, die auch an den Menschen nicht vorbeigehen werden, die sich von der Politik fernhalten.
Kampf um öffentliche Meinung
Im Internet finden sich Bilder von Sticker-Kriegen, wie sie in Friedenszeiten vor allem Fußballfans führen, nur dass es diesmal nicht um Vereinslogos geht: Aufkleber mit dem Slogan "Nein zum Krieg" werden an Laternen und in Wohnhäusern geklebt und von vermeintlichen Patrioten und Behörden wieder entfernt. Unter dem russischsprachigen Hashtag #neinzumkrieg liefert das Netzwerk Instagram mehr als 300.000 Treffer. Ein auf Russisch verfasster Aufruf zum Frieden auf der Plattform change.org hat mehr als eine Million Unterschriften gesammelt.
Das Ausmaß dieser kleinen Scharmützel um die öffentliche Meinung ist von Deutschland aus nicht ansatzweise einzuschätzen. Allerdings gibt es durchaus Absetzbewegungen, die auch jetzt schon viele Russen aufmerksam notiert haben dürften. Mit dem kommunistischen Abgeordneten Wjatscheslaw Markhajew hat nach Michail Matwejew und Oleg Smolin schon der dritte Duma-Abgeordnete den Überfall auf die Ukraine kritisiert. Die Anerkennung der selbsternannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk sei vom Kreml als "Vorwand" genutzt worden; sei Teil "versteckter Pläne, einen umfassenden Krieg mit unserem engsten Nachbarn zu entfesseln", zitiert die "Nowaja Gazeta" Markhajew.
Die KPRF gilt als Marionettenopposition, eine Partei, die hier und da Kritik üben darf, die aber das System Putin grundsätzlich nicht in Frage stellt. Das klingt nun bei Markhajew etwas anders: "Ich habe für den Frieden gestimmt und nicht für Krieg. Dafür, dass Russland zum Schild werde, damit der Donbass nicht mehr bombardiert wird, aber nicht dafür, dass Kiew bombardiert wird", argumentierte Matwejew.
Auch Oligarchen mucken auf
"Echo Moskau" berichtet von einer Unterschriftenliste, in der mehr als 200 Kommunalabgeordnete den Krieg verurteilen: "Wir - die vom Volk gewählten Abgeordneten - verurteilen den Angriff der russischen Armee auf die Ukraine unmissverständlich. Dies ist eine noch nie dagewesene Gräueltat, für die es keine Rechtfertigung gibt und auch nicht geben kann", heißt es in dem Aufruf, den ntv.de allerdings nicht verifizieren konnte.
Hinzukommen Proteste und Kritik einiger Oligarchen und ihrer Kinder, darunter der Milliardär Oleg Tinkow sowie Michail Fridman und Oleg Deripaska. "Jetzt sterben jeden Tag unschuldige Menschen in der Ukraine, das ist unvorstellbar und inakzeptabel! (…) Wir sind gegen diesen Krieg!", postete der Gründer der Tinkoff Bank zusammen mit einem Familienbild auf Instagram. Welchen Einfluss in London lebende Eliten wie Tinkoff auf die öffentliche Meinung in Russland ausüben können, ist schwer einzuschätzen. Zumindest ist es Teil der westlichen Strategie, den Druck auf Putin zu erhöhen, indem die bisherigen Profiteure des System Zugang zu ihren Geschäften und ihrem Vermögen verlieren.
Doch während die Verluste der Oligarchen vor allem finanzieller Natur sind, sind die der durchschnittlichen Russen sehr viel tragischer: Wenn die ukrainischen Zahlen zu den getöteten russischen Soldaten nur ansatzweise stimmen, werden die Todesbenachrichtungen der russischen Armee an die Hinterbliebenen die erste ehrliche Nachricht sein, die der russische Staat seine Bürgern aus dem Krieg in der Ukraine bringt - tausendfach.
Quelle: ntv.de