Politik

Hamas entführt Kinder aus Kibbuz "Nehmt mich nicht mit, ich bin zu jung"

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Israelische Streitkräfte verstärken die Sicherheitsmaßnahmen in Sderot an der Grenze zum Gazastreifen.

Israelische Streitkräfte verstärken die Sicherheitsmaßnahmen in Sderot an der Grenze zum Gazastreifen.

(Foto: picture alliance / AA)

R. (Name der Redaktion bekannt) ist nicht daheim, als die Hamas am Samstag ihre beiden Söhne, 12 und 16 Jahre alt, aus ihrem Haus in einem Kibbuz nahe dem Gazastreifen entführt. Am Telefon hört sie Schüsse, Terroristen dringen ins Haus ein, die Verbindung bricht ab. Im ganzen Ort nimmt die Hamas Hunderte Menschen mit, Babys, Kinder, Frauen und Alte. R. ist in dem Kibbuz aufgewachsen und hat zwei Jahre in London verbracht.

ntv.de: Wie haben Sie die vergangenen Tage erlebt?

R.: Ich fühle mich wie in einem Horrorfilm oder einem bösen Traum. Ich kann es nicht wirklich erklären. Ich warte darauf, aufzuwachen. Ich will, dass es vorbei ist. Ich kann nicht glauben, dass es Teil meines Lebens ist. Ich konnte mir das nicht einmal vorstellen.

Können Sie uns beschreiben, was genau am Samstag passiert ist?

Es war Samstagmorgen, 6.30 Uhr. Wir hatten Alarmstufe Rot. Meine Jungs schliefen in meinem Haus, ich war nicht da. Es war ihr Wochenende mit ihrem Vater - wir sind geschieden -, und er war in seinem Haus. Wir wohnen im selben Kibbuz, ein paar hundert Meter entfernt. Sie sind 12 und 16 Jahre alt. In einer normalen Situation ist das in Ordnung. Dass sie diesmal dort allein waren, werde ich mir nie verzeihen.

Sie gingen in den Sicherheitsraum und ich telefonierte alle paar Minuten mit ihnen. Und gegen 8 Uhr sagten sie, dass sie Schüsse außerhalb des Hauses hörten. Wir bekamen Textnachrichten von Leuten aus der Gemeinschaft, die sagten, dass Terroristen frei draußen herumlaufen und versuchen, in Häuser einzubrechen und Leute mitzunehmen.

Gegen 8.30 Uhr riefen meine Kinder mich an und sagten, dass jemand die Tür einbricht und ins Haus kommt. Ich habe sie gebeten, leise zu sein. Die Türen im Sicherheitsraum können nicht abgeschlossen werden. Niemand hätte je gedacht, dass dieses Szenario eintreten könnte. Sie verriegeln nur gegen Raketen oder Erdbeben, aber nicht gegen Terroristen. Ich habe dort nie ein Schloss angebracht. Auch das werde ich mir nie verzeihen.

In unserem Telefonat etwa um 8.40 Uhr flüsterten sie, und ich hörte, wie draußen Arabisch gesprochen wurde, wie die Araber hineingingen. Mein Jüngster sagte zu ihnen: "Nehmt mich nicht mit, ich bin zu jung." Das Telefon ging aus. Das war das letzte Mal, dass ich von ihnen gehört habe. Später fand ich heraus, dass ihr Vater erschossen wurde. Seine Frau wurde aber auch mitgenommen. Ich hoffe wirklich, dass sie alle zusammen sind und sie sich zumindest gegenseitig haben.

Sie nahmen Babys, Frauen und ältere Menschen über 85 Jahre mit, Hunderte Menschen. Die Hälfte meiner Gemeinschaft, ich weiß nicht, ob lebendig oder tot. Jedes Mal, wenn es einen Raketenangriff auf unser Haus gab, sagte ich zu meinen Kindern, dass die Kinder in Gaza viel mehr leiden als sie selbst. Wir müssen Empathie zeigen, wir brauchen Moral. Aber um ehrlich zu sein, bin ich mir nicht sicher. Jetzt nicht mehr.

Haben Sie seit der Entführung am Samstag etwas von Ihren Söhnen gehört?

Wir haben nichts gehört und nichts gesehen. Und es gibt keinerlei Informationen. Und alles, worum ich jetzt bitte, ist, dass das Rote Kreuz hineingeht und sie trifft und sieht, dass sie am Leben und gesund sind. Und dass sie älteren Menschen, die sie brauchen, Medikamente geben. Ich hoffe, dass sie bald wieder gesund und frei sind, denn ich kann das nicht mehr ertragen.

Sind Sie sich sicher, dass sie sich im Gazastreifen befinden?

Wo sollen sie sonst sein? Ja. Ganz sicher.

Was wissen Sie über die Entführer?

Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nichts über sie. Einige von ihnen sind wahrscheinlich ausgebildete Terroristen. Manche sind einfach gekommen, um zu stehlen. Sie nahmen Fahrräder, Fernseher und Computer mit.

Wie nah liegt Ihr Dorf an der Grenze zum Gazastreifen?

Es ist etwa 1,5 Kilometer entfernt von der Grenze. Es sind zehn Minuten zu Fuß. Wir können ihre Häuser sehen und sie können unsere sehen. Aber ich hätte nie gedacht, dass sie das tun würden.

Wie war es im Kibbuz zu leben, bis zu dem Überfall?

Wir haben ein normales Leben geführt. Kinder großgezogen, sie gingen zur Schule, sie spielten auf dem Computer, sie kämpften gegeneinander. Ich lief frei auf den Feldern umher. Im Alltag gab es kein Gefühl von Gefahr. Das liegt wahrscheinlich daran, dass wir unserer Regierung und unserer Armee vertraut haben, dass sie uns verteidigen. Was sie nicht taten. Und wir haben unseren Nachbarn vertraut, was natürlich ein großer Fehler war.

Wie präsent ist die Armee momentan in Ihrer Region?

Wir wurden evakuiert, in ein Hotel in Eilat. Manche sogar noch weiter. Die Armee ist jetzt dort. Ich glaube nicht, dass ich irgendwohin zurückkehren kann, weil sie Häuser niedergebrannt und alles ruiniert, alles kaputt gemacht und alles gestohlen haben. Es ist der blanke Horror.

Was fordern Sie von der Weltgemeinschaft?

Ich möchte, dass die Welt weiß, was passiert ist. Und ich will, dass die Welt fordert, dass diese Babys, Kinder, Frauen und Älteren sofort nach Hause zurückgebracht werden, ohne Bedingungen. Ich möchte, dass das Rote Kreuz zu den Menschen geht. Ich will wissen, dass meine Kinder am Leben sind. Und ich möchte, dass die palästinensischen Mütter darüber nachdenken, warum sie ihre Kinder großziehen. Warum bringen sie Kinder auf die Welt? Um andere zu töten? Ich bin mir sicher, dass sie auch in Frieden leben wollen.

Mit R. sprach Caroline Amme. Das Gespräch wurde zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet.

Quelle: ntv.de

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