Hunderte Sarin-Tote bei Damaskus Opfer von Assads Giftgasangriff hoffen auf Rebellen
27.12.2024, 04:31 Uhr Artikel anhören
In einem fensterlosen Raum mit abgeklebter Tür übersteht Hussein Arbini mit seiner Familie eine Nervengas-Attacke.
(Foto: AP)
In einem Vorort von Damaskus entgeht eine syrische Familie 2013 einer Giftgasattacke, während ringsum Nachbarn und Freunde sterben. Noch zwölf Jahre später können die Arbinis die endlose Nacht in dem abgedichteten Raum nicht vergessen. Der Sturz Assads gibt ihnen Hoffnung auf Strafe für die Täter.
Die syrische Familie Arbini erinnert sich noch genau daran, wie sie sich in einem fensterlosen Zimmer in ihrem Haus einschloss, stundenlang - und damit dem Schicksal Dutzender ihrer Nachbarn entrann, die an jenem Tag ums Leben kamen. Es war einer der tödlichsten Augenblicke im syrischen Krieg, und was sich damals ereignete, verfolgt sie noch immer, wie die Arbinis sagen.
Es war der 21. August 2013, als ein Chemiewaffenangriff in Syrien Hunderte Menschen tötete. Er richtete sich gegen mehrere Vororte in Damaskus, so auch Samalka, in dem die Familie lebt. Die Attacke mit dem extrem giftigen Nervengas Sarin, das innerhalb von Minuten töten kann, wurde syrischen Streitkräften des seinerzeitigen - kürzlich von Rebellen gestürzten - Präsidenten Baschar al-Assad zugeschrieben, da sie die einzige Seite im Bürgerkrieg waren, die Sarin besaßen. Die Regierung bestritt jedwede Rolle bei dem Angriff und machte oppositionelle Kämpfer verantwortlich, die den Vorwurf ihrerseits zurückwiesen.
Obamas "rote Linie"
2012 hatte der damalige US-Präsident Barack Obama Assad mit militärischer Vergeltung für den Fall eines Chemiewaffeneinsatzes gedroht, einen derartigen Angriff als Washingtons "Rote Linie" bezeichnet, deren Überschreitung gravierende Konsequenzen haben werde. Er setzte diese Drohung aber nie um.
Für viele Überlebende sind die Erinnerungen an die damaligen Ereignisse noch so lebendig, als wären sie gestern geschehen. "Es war eine schreckliche Nacht", sagte der 41-jährige Hussein Arbini der Nachrichtenagentur AP. Die Boden-Boden-Raketen fielen nahe dem Haus seiner Familie auf die Erde, ohne zu explodieren, um dann stattdessen das giftige Gas freizusetzen. Kurz danach, so schildert er, hätten die Mitglieder seiner Familie Atemprobleme bekommen, ihre Augen hätten begonnen zu schmerzen und ihre Herzen hätten immer schneller geschlagen.
Arbini eilte mit seinen Eltern, Geschwistern und deren Familien sowie einem Nachbarn in den einzigen Raum im Haus, der keine Fenster hatte. Er versiegelte die Tür mit Klebebändern und tauchte Kleidungsstücke in Wasser, um sie zusammengerollt unter die Tür zu schieben. "Ich habe sogar das Schlüsselloch zugeklebt", sagt er.
Drei Stunden in abgedichtetem Zimmer
Ein paar Monate zuvor hatten örtliche Ersthelfer der syrischen Zivilverteidigung, auch als Weißhelme bekannt, den Einwohnern in den von der Opposition kontrollierten Vororten von Damaskus beigebracht, was sie im Fall eines Giftgasangriffes tun sollten. So rieten sie ihnen auch, Nase und Mund mit einem in Essigwasser getränkten Tuch zu bedecken, sozusagen als Filter beim Atmen, wie Arbini erzählt. Die Gruppe von insgesamt 23 Leuten hielt sich drei Stunden eingepfercht in dem Zimmer auf - eine Zeit, die in jener Nacht endlos erschien. Draußen starben derweil viele Menschen. Dass sie selbst überlebt hätten, sei Gott und "diesem verschlossenen Raum" zu verdanken, sagt Arbini.
Ungefähr bei Tagesanbruch kamen Weißhelme in ihr Haus, fanden die Gruppe in dem Zimmer im Erdgeschoss und wiesen sie an, sofort die Gegend zu verlassen. Sie rannten auf die Straße und sahen rundherum Tote. Ein vorbeifahrender Lastwagen nahm die Familie mit und brachte sie außerhalb von Samalka in Sicherheit. Ihr Nachbar, der beim Anblick der entsetzlichen Szene draußen ohnmächtig geworden war, wurde von Sanitätern versorgt und weggebracht. "Ich hatte Angst hinzuschauen", sagt Arbinis 66-jährige Mutter, Chadidscha Dabbas.
Die Familie hielt sich mehrere Wochen ein paar Kilometer von ihrem Heimatort entfernt auf, aber kehrte dann zurück. Trotz Obamas Drohung einigte sich Washington am Ende mit Moskau auf einen Deal, der den von Russland gestützten Assad dazu verpflichtete, sein Giftgasarsenal aufzugeben. Es herrscht jedoch verbreitet die Überzeugung, dass seine Regierung einige Chemiewaffen behielt und sie auch erneut einsetzte. So wurde sie unter anderem einer Chlorgasattacke auf Duma, einem anderen Vorort von Damaskus, mit 43 Toten beschuldigt.
"Harte Strafen für die Täter"
Arbini denkt oft an die Nachbarn, Freunde und Mitbürger zurück, die damals in Samalka ums Leben kamen, und er möchte, dass die Verantwortlichen "auf das Härteste" bestraft werden. "All diese Kinder und unschuldigen Leute, die getötet wurden, sollten Gerechtigkeit erfahren", sagt er und blickt auf seinen zwölfjährigen Sohn, Laith, der zur Zeit der Attacke ein Baby war.
Die neue Regierung in Damaskus wird von der Dschihadisten-Gruppe Haiat Tahrir al-Scham angeführt, die Assad Anfang Dezember im Zuge einer erstaunlichen Blitzoffensive gestürzt hatte. Sie hat versprochen, für Gräueltaten verantwortliche Ex-Regierungsbeamte zur Rechenschaft zu ziehen. Aber zurzeit ist noch unklar, wie Syriens Zukunft aussehen wird. Der Sturz der Assad-Regierung habe zwar die Möglichkeit von Gerechtigkeit für Tausende Opfer von Schreckenstaten eröffnet, so auch für jene, die durch Chemiewaffen getötet worden seien, sagt Adam Coogle von Human Rights Watch. "Aber Gerechtigkeit wird es nur geben, wenn die neuen Obrigkeiten ihr Priorität einräumen und rasch handeln, um Beweise zu bewahren."
Am Mittwoch besuchten ein Dutzend Leute den Märtyrer-Friedhof in Samalka und die Gräber von Einwohnern aus der Gegend, die während des fast 14-jährigen Bürgerkriegs getötet wurden. Arbinis Bruder Hassan wies auf jenen Teil der Anlage, der ein Massengrab enthält. Es gibt dort keine Namen, nur ein Schild auf Arabisch mit der Inschrift "August 2013". "Die Märtyrer der chemischen Attacke sind hier", sagt er und rezitiert ein muslimisches Gebet für die Toten.
Quelle: ntv.de, mau/AP