Politik

Interview mit Christiane Woopen "Priorisierung sollte beibehalten werden"

Christiane Woopen war bis letzte Woche die Vorsitzende des Europäischen Ethikrats und ist Professorin für Ethik und Theorie der Medizin an der Universität zu Köln.

Christiane Woopen war bis letzte Woche die Vorsitzende des Europäischen Ethikrats und ist Professorin für Ethik und Theorie der Medizin an der Universität zu Köln.

(Foto: picture alliance/dpa)

Christiane Woopen, die frühere Vorsitzende des Europäischen Ethikrats, kritisiert die Aufhebung der Impfpriorisierung. "Wenn ein so wichtiges Mittel wie der Impfstoff knapp ist, dann ist es eine Frage der staatlichen Verantwortung, nach Maßstäben der Gerechtigkeit vorzugehen und nicht einfach den Startschuss für ein Wettrennen zu geben." Sie selbst schlägt ein Vier-Säulen-Modell vor.

ntv.de: Als Mitglied des Corona-Expertenrats der nordrhein-westfälischen Landesregierung haben Sie immer für die Verhältnismäßigkeit der Mittel bei der Pandemiekontrolle geworben. Halten Sie die aktuellen Öffnungen für angemessen?

Christiane Woopen: Lockerungen bei sinkenden Inzidenzen und auch die Öffnung von Bildungseinrichtungen, Geschäften, kulturellen Veranstaltungen und dergleichen halte ich für sehr wichtig und auch geboten. Denn es geht ja hier schließlich um Eingriffe in mehrere Grundrechte. Aber die Öffnungen müssen unter Einhaltung der entsprechenden Schutzmaßnahmen erfolgen. Der Expertenrat hat bereits im März in seiner fünften Stellungnahme (pdf) darauf hingewiesen, dass Schritte der Öffnung aus dem Lockdown daran gekoppelt sein sollten, dass an den jeweiligen Orten umfassende Schutzkonzepte verfügbar sind.

Ist das denn nicht der Fall?

Mein Eindruck ist im Moment, dass die Notwendigkeit mancher Schutzmaßnahmen etwas aus dem Bewusstsein gerät. In der großen Freude über die sinkenden Inzidenzen, das herrliche Wetter und die Möglichkeiten, lang ersehnte Dinge wieder tun zu können, die ich sehr teile, schwindet vielleicht das Bewusstsein, dass man noch immer achtsam sein muss. Es ist wichtig, Lockerheit und Freiheit und Fröhlichkeit zuzulassen. Aber bitte so, dass wir nicht mittelfristig in eine vierte Welle hineinrauschen, wenn zudem möglicherweise der Impfschutz bei den ersten Geimpften wieder nachlässt. Ich halte es daher auch für ganz wichtig, dass für die Corona-Warn-App gerade jetzt, wo zusätzliche Funktionen wie die QR-Code-Registrierung in Geschäften, Restaurants oder bei Veranstaltungen eingeführt sind, besonders geworben wird. Je mehr Menschen sie nutzen, umso besser kann sie Infektionsketten abbrechen.

Für Geimpfte und Genesene, mit Einschränkungen auch für Getestete, gelten bereits seit Anfang Mai Erleichterungen. War es richtig, Getestete nicht vollständig mit Geimpften und Genesenen gleichzustellen?

Es gibt, glaube ich, wenige Orte, an denen das gerechtfertigt ist. Ein PCR-Test ist ein guter Hinweis darauf, dass jemand nicht ansteckend ist. Bei den Genesenen gibt es aber ein großes Problem mit dem Kriterium, wann man als genesen gilt.

Genesene müssen ihren Status mit einem positiven PCR-Test nachweisen, der mindestens 28 Tage und maximal sechs Monate alt ist.

Und da liegt das Problem. Es gibt viele, die nur zufällig entdeckt haben, dass sie schon Corona hatten und viele Antikörper haben. Die können keinen PCR-Test vorweisen. Andere haben einen positiven PCR-Test, der älter als sechs Monate ist, haben aber immer noch einen so hohen Antikörpertiter, also eine so hohe Konzentration von Antikörpern, dass der Arzt von einer Impfung abrät. Ich würde mir deshalb differenziertere Kriterien wünschen, damit diese Menschen nicht ungerechtfertigt benachteiligt werden.

Wären diese differenzierten Kriterien sicher genug?

Das muss weiterhin beobachtet werden. Aber auch Geimpfte können sich und andere anstecken, auch wenn das Risiko dazu sehr gering ist. Insofern sprechen wir nie von vollständigen Lösungen, wir sprechen immer nur von Risiko-Reduktionen. Das gilt für Impfungen, Tests und den Status als genesen.

Ist es für Genesene denn medizinisch bedenklich, sich zu früh impfen zu lassen?

Manche Ärzte testen die Antikörper, wenn sie wissen, dass jemand infiziert war. Aber routinemäßig wird das nicht gemacht. Wenn es aber einen Antikörper-Test gibt und der Antikörpertiter ist noch sehr hoch, dann gibt es Ärzte, die von einer Impfung abraten. Manchmal aus medizinischen Gründen. Andere Ärzte sagen, dass man die Impfdosen lieber für einen Patienten nimmt, der noch keinen Schutz hat. Da gibt es nach dem, was ich höre, eine recht uneinheitliche Handhabung.

Ist es für Genesene nicht zumutbar, sich testen zu lassen?

Ich halte die Tests mit wenigen Ausnahmen durchaus für zumutbar. Trotzdem - wenn man schon einen Sonderstatus für Genesene beschließt, dann sollte man versuchen, alle Konstellationen vernünftig zu erfassen.

Wie lange, glauben Sie, wird es überhaupt noch notwendig sein, den Impfstatus, den Status der Genesung oder ein Testergebnis nachzuweisen? Wann kommt der Moment, an dem Öffnungen einfach für alle gelten?

Die Pandemie, so lautet ein oft zitierter Satz, ist erst vorbei, wenn sie überall vorbei ist - und "überall" meint nicht Deutschland und auch nicht Europa, sondern die ganze Welt. Das heißt, dass wir noch sehr lange wachsam sein müssen, dass wir in der Lage sein müssen, schnell zu reagieren, wenn die Infektionszahlen wieder irgendwo steigen oder eine neue Variante auftaucht, und dass wir weiterhin eine umfassende Test-Strategie brauchen. Im Laufe der Zeit wird es sicherlich dazu kommen, dass man den Status - geimpft, genesen oder getestet - nur noch in ganz bestimmten Bereichen wie etwa dem Reisen nachweisen muss. Denn solche Maßnahmen sollten natürlich nicht dauerhaft überall zum Standard werden, sondern immer nur dort gefordert werden, wo es gute Gründe dafür gibt.

Sie haben kürzlich an einem Webinar zum Thema "Denken wir an die Jungen!?" teilgenommen. Was ist Ihre Antwort: Ist in der Pandemie genug an die jungen Menschen gedacht worden?

Nein, in der Pandemie wurde nicht genug an die Jungen gedacht. Es wurde auch nicht genug getan, um auszugleichen, worauf sie verzichten müssen. Meine riesengroße Sorge ist zudem, dass es durch die Delta-Variante im Herbst / Winter wieder zu Wechselunterricht oder einzelnen Schulschließungen kommt und es dann immer noch Schulen gibt, die PDFs verschicken und keinen ausreichenden Kontakt zwischen Lehrern und Schülern garantieren. Denn da es ja offenbar keine allgemeine Empfehlung der Ständigen Impfkommission für Kinder und Jugendliche geben wird, müssen wir damit rechnen, dass es im Herbst zu einzelnen Ausbrüchen in Schulen kommt. Wenn es dann im zweiten Jahr der Pandemie nicht gelungen ist, die Schullandschaft zu digitalisieren und flächendeckend Konzepte für den digitalen Unterricht einzuführen, dann wäre das ein Versäumnis, dass sich endgültig nicht mehr rechtfertigen ließe.

Viele Eltern fragen sich gerade, ob sie ihre Kinder impfen lassen sollten. Sie sind nicht nur Medizinethikerin, sondern auch Medizinerin - was würden Sie empfehlen?

Ich halte es für richtig, dass die Ständige Impfkommission keine allgemeine Empfehlung abgibt, wenn die Datenlage dafür nicht ausreicht, und sich auf die Empfehlung für diejenigen beschränkt, die bestimmte Vorerkrankungen haben. Das heißt im Umkehrschluss allerdings nicht, dass die STIKO von einer Impfung abrät. Deswegen ist es so wichtig, dass der Staat die Informationsgrundlagen klar verständlich, gut aufbereitet und leicht zugänglich in mehreren Sprachen zur Verfügung stellt, damit Eltern sich eine eigene Meinung bilden können. Das ersetzt nicht das ärztliche Beratungsgespräch. Aber in dieser Situation, wo so viele verunsichert sind, ist es wichtig, dass eine Informationsgrundlage da ist, damit die Eltern ihrer Verantwortung auch gerecht werden können. Es gibt zudem besondere Situationen, in denen etwa ein Elternteil ein hohes Risiko für einen schweren Verlauf hat, aber nicht geimpft werden darf.

Am 7. Juni wird die Priorisierung aufgehoben, obwohl noch nicht jeder Zweite mindestens eine Impfung erhalten hat. Befürchten Sie dadurch Ungerechtigkeiten oder ist die Entscheidung im Sinne des Pragmatismus sinnvoll?

Mein Ansatz wäre, die Impfkampagne auf vier Säulen zu stellen. Eine Priorisierung derjenigen mit hohem medizinischem Risiko sollte beibehalten werden. Parallel dazu sollte aber auch auf die Schnelligkeit geachtet werden. Denn es gibt ja auch den epidemiologischen Aspekt: Die möglichst schnelle Impfung hat einen Effekt bei der Bekämpfung der Pandemie. Die dritte Säule wäre aus meiner Sicht die Impfung derjenigen, die unter besonderen sozialen Belastungen stehen, indem man etwa Impfmobile in die sozial prekären Viertel schickt, wie es teilweise ja auch schon geschieht. Und viertens sollte es Impf-Angebote für die junge Generation geben, um ihnen bald wieder ein weitgehend normales Leben zu ermöglichen. Die schlichte Aufhebung der Priorisierung hat den Effekt, dass diejenigen, denen es ohnehin schon besser geht und die oft einen besseren Zugang zu Hausärzten haben, dann auch als erste einen Impftermin bekommen. Das verstärkt den Effekt der sozialen Ungleichheit, die diese Pandemie ohnehin hat: dass nämlich diejenigen, denen es sozioökonomisch schlechter geht, im Vergleich stärker belastet werden. Wenn ein so wichtiges Mittel wie der Impfstoff knapp ist, dann ist es eine Frage der staatlichen Verantwortung, nach Maßstäben der Gerechtigkeit vorzugehen und nicht einfach den Startschuss für ein Wettrennen zu geben.

Mit Christiane Woopen sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

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