Über 1200 Fälle in Russland Putin dreht im Kampf gegen Corona auf
28.03.2020, 16:35 Uhr
Kümmert sich neuerdings persönlich darum, wie Russland die Ausbreitung des Corona-Virus bekämpft: Präsident Wladimir Putin beim Besuch eines Krankenhauses.
(Foto: picture alliance/dpa)
Putin hat die Ausbreitung des Corona-Virus lange ignoriert. Nun macht er den Kampf zur Chefsache, doch selbst Ökonomen fordern härtere Maßnahmen. Dagegen lebt das Nachbarland Ukraine schon seit Wochen in Quarantäne, während in Weißrussland die Fußball-Liga noch spielt.
Wenn Wladimir Putin sich persönlich einer Sache widmet, dann ist es ernst, das wissen die Russen. Bei der Corona-Krise war das zunächst nicht der Fall. Putin erwähnte Corona als wichtige Herausforderung, aber doch nebenbei. Für Covid-19 waren andere zuständig: der Ministerpräsident Michail Mischustin und der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin, nun auch Chef einer staatlichen Corona-Arbeitsgruppe, die ständig im staatlichen Fernsehen die Lage der Nation erklärt.
Doch vergangene Woche hat sich das drastisch verändert. Am Dienstag besuchte Putin erst ein Krankenhaus in einem Moskauer Vorort, welches Corona-Patienten behandelt. Die Bilder des Präsidenten in oranger Schutzkleidung gingen schnell durch das Internet. Auch schaute Putin bei der Baustelle einer neuen Klinik vorbei, die in drei Wochen öffnen soll. Ein ähnliches Krankenhaus wird auch nahe Sankt Petersburg nach chinesischem Vorbild im Schnelltempo gebaut. Am Mittwoch appellierte der 67-Jährige endlich an die Russen.
Die nächste Woche soll in Russland demnach arbeitsfrei bleiben. Was für Putin selbst aber besonders bitter ist: Das für den 22. April geplante Referendum zur Verfassungsreform wird auch gleich verschoben. Es kann Medienberichten zufolge frühestens am Tag Russlands am 12. Juni nachgeholt werden. Die Reform würde dem Präsidenten erlauben, noch zwei weitere Amtszeiten im Kreml zu bleiben.
Bericht sieht düstere Zeiten für Moskau
Es ist womöglich die blanke Realität, die Putin und seinen Apparat zum Umdenken brachte. Noch vor kurzem sprach Russlands Vizepremierministerin Tatjana Golikowa von Corona als einer „groß aufgemachten Geschichte". Doch am Freitagmorgen hat die Anzahl der offiziellen Covid-19-Fälle in Russland die Tausend überschritten. Mehr als die Hälfte der Fälle ist in der Hauptstadt Moskau registriert. Dort scheint man schon länger Alarm zu schlagen. So leakte das vom Putin-Gegner Michail Chodorkowskij finanzierte Medienprojekt Dossier einen angeblich für die Regierung des Bezirks Moskau vorbereiteten Bericht, der auf düstere Zeiten einstellt.
Sollte man keine dringenden Maßnahmen beschließen, geht man offenbar von 2,2 Millionen Infizierten in Moskau und Umgebung bereits Anfang Mai aus. Die Einführung einer harten Quarantäne ab dem 26. März hätte dagegen die Anzahl der Infizierten auf 250 000 Menschen reduziert. Für beide Szenarien geht der Bericht aber noch von einem perfekt funktionierenden Gesundheitssystem aus. Die Wirklichkeit könnte daher noch dramatischer aussehen.
Entsprechend besorgt gibt sich Bürgermeister Sergej Sobjanin – und zwar bereits seit Tagen. „Wir wissen nicht, wie die reale Ausbreitung von Corona ist. Das reale Bild kennt niemand auf der Welt", sagte er während einer Besprechung mit Wladimir Putin. „Die Regionen wissen nicht, wie sie gegen das Virus vorgehen sollen. Und das Testniveau ist sehr niedrig."
Moskaus Bürgermeister ist Vorreiter
Es ist der 61-jährige Sobjanin, seit zehn Jahren Moskauer Bürgermeister, der den Vorreiter im russischen Kampf gegen Corona gibt. Alle Einschränkungen, die es in Russland gibt, sind zuerst in Moskau verkündet worden. So werden in der nächsten arbeitsfreien Woche in der Hauptstadt keine Restaurants, Cafes, Bars und nur ausgewählte Geschäfte arbeiten. Auch wurde für Moskauer, die älter als 65 Jahre sind, eine Ausgangssperre vorerst bis zum 14. April verhängt.
Erst im Nachhinein empfahl der neue Ministerpräsident Mischustin, die gleichen Maßnahmen wie in Moskau im ganzen Land einzusetzen. Das macht den als Bürgermeister erfolgreichen Sobjanin de facto zum derzeit zweiten Mann in Russland hinter Putin und stärkt seine Karten im aktuellen Machtpoker. Obwohl Putin wohl auch nach 2024 Kremlchef bleiben wird, empfiehlt sich Sobjanin zumindest als möglicher Premier.
Doch obwohl eine harte, lange Quarantäne Russland aufgrund der aktuell extrem niedrigen Ölpreise in eine große Wirtschaftskrise stürzen würde, halten selbst namhafte Ökonomen diese für die bessere Option – und kritisieren die Verkündung der vorerst einzigen arbeitsfreien Woche deutlich. „Diese Woche wird trotz aller Einschränkungen von vielen als Ferien wahrgenommen. Den Fehler hat Italien schon gemacht. Wir brauchen eine richtige Quarantäne – je schneller, desto besser, auch für die Wirtschaft", heißt es in einem von 14 Professoren unterschriebenen Brief.
In der Ukraine steht fast alles still
Tatsächlich sehen die von Putin am Mittwoch angekündigten Maßnahmen etwas halbherzig aus, während am gleichen Tag etwa das Nachbarland Ukraine die Verlängerung der Quarantäne bis zum 24. April verkündete. Dort sind bereits seit anderthalb Wochen nur Apotheken, Banken, Tankstellen, Supermärkte und ähnliche Einrichtungen offen. Die U-Bahn steht still, der öffentliche Verkehr zwischen den Städten ist untersagt. Zudem machte in den Städten wie Kiew der Öffentliche Verkehr außer für systemrelevante Berufe komplett zu. Zu groß ist die Angst, dass das schwache Gesundheitssystem, welches landesweit nur über rund 600 Beatmungsgeräte verfügt, in der Corona-Krise scheitern kann.
Die Angst ist auch aus einem anderen Grund berechtigt. Die Verbindung zwischen der Ukraine und der EU ist eng. Die Ukrainer bekommen stets die meisten Aufenthaltsgenehmigungen in der EU, außerdem arbeiten viele nach der Aussetzung der Visapflicht im Sommer 2017 illegal in Ländern der Union. Dies könnte bedeuten, dass die reale Ausbreitung von Covid-19 in der Ukraine viel größer sein könnte, als die am Freitag gemeldeten über 200 Fälle.
Lukaschenko empfiehlt Wodka und Feldarbeit
Die vergleichbar niedrige Zahl ist auch darauf zurückzuführen, dass das Land erst seit dieser Woche überhaupt massenhaft testen kann. Für die Ukraine, eines der ärmsten Länder Europas, stellt die Quarantäne aber eine noch viel größere Wirtschaftsgefahr als für Russland. Eine Hilfsstrategie für lokale Unternehmen hat die Ukraine nicht. „Wir müssen erstmal alle überleben", sagt Innenminister Arsen Awakow dazu. „Erst dann können wir über Verluste und Entschädigungen nachdenken."
Gelassen gibt sich dagegen Weißrussland, das derzeit rund 100 Corona-Fälle vermeldet. Staatspräsident Alexander Lukaschenko, seit 1994 im Amt, hält Covid-19 für eine Psychose und empfiehlt gegen Corona scherzhaft Wodka und Arbeit auf dem Feld: „Dort denkt man nicht über Viren nach. Der Traktor wird alle heilen." Was sich wie Satire anhört, hat reale – und gefährliche – Konsequenzen. Nicht nur Schulen und Kitas sind in Belarus noch offen. Selbst die Fußball-Liga wird als einziges Fußball-Turnier der Welt weitergespielt, und zwar mit Zuschauern in den Stadien.
Quelle: ntv.de