Reisners Blick auf die Front "Bei Wowtschansk liegen sich Ukrainer und Russen wie in Stalingrad gegenüber"
01.07.2024, 19:45 Uhr Artikel anhören
Die nordöstliche Frontstadt Wowtschansk während eines schweren Bombardements durch russische Streitkräfte Ende Mai
(Foto: picture alliance/dpa/Ukrainian Liut Brigade, Tsunami Assault Regiment)
Im Donbass kämpfen Ukrainer und Russen erbittert noch um das kleinste Dorf. Aber stetig geht es für Putins Truppen vorwärts. Am Himmel über Osteuropa ist der Kreml auch gegen die NATO aktiv. Oberst Reisner erklärt bei ntv.de, wie es den Russen gelingt, westliche Flieger zu stören.
ntv.de: Die russische Armee hat in den vergangenen Tagen die Einnahme zweier Ortschaften gemeldet - Nowoolexandriwka und Spirne. Die Ukraine widerspricht allerdings. Wie stellt sich die Situation aus Ihrer Sicht dar?
Markus Reisner: Die Russen haben entlang der gesamten Front die Initiative, das heißt, sie bestimmen durch ihre Angriffe, wo gekämpft wird. In zwei Schwergewichtsräumen sind sie dabei langsam erfolgreich: zum einen im Raum Tschassiw Jar und bei Otscheretyne im Donbass. Dort liegen auch die beiden genannten Orte, Nowoolexandriwka und Spirne. Ein Teil des Gebietes im Raum Tschassiw Jar liegt auf der ostwärtigen Uferseite des Donbass-Kanals. Dieser Teil ist inzwischen fast zu 100 Prozent im Besitz der Russen. Die große Herausforderung für die russischen Truppen ist es, den Sprung über den Kanal zu schaffen. Hier werden wir in den nächsten Wochen heftige Kämpfe erleben. Zum anderen kommen die russischen Kräfte etwa 100 Kilometer südlich von Tschassiw Jar bei ihrem Einbruch in die zweite Verteidigungslinie der Ukrainer bei Otscheretyne voran. Sie weiten ihn aus. Die "Blume", so nennen die Russen das, hat begonnen zu "blühen". Kleinere Ortschaften mit 500 bis 1000 Einwohnern, deren Namen man noch nie gehört hat, sind dort heftigst umkämpft. Sie fallen schließlich nach wochenlangen Kämpfen dem Erdboden gleichgemacht in den Besitz der Russen.
Wie schnell rücken sie dort vor?
Das sind keine großen Strecken, mal nur 100 Meter, mal 500 Meter oder auch ein Kilometer, aber im Abnutzungskrieg summiert sich das. Dabei wenden sie folgende Taktik an: Die russischen Truppen schießen nicht nur mit Artillerie und Raketenwerfern, sondern werfen gezielt Gleitbomben ab. Mit deren enormer Sprengwirkung können sie ganze Stützpunkte der Ukrainer ausschalten, und dann kommt es zum Angriff. Da kommen dann kleinere Elemente zum Einsatz. Ein oder zwei Schützenpanzer, ein Kampfpanzer, oft auch vier bis fünf Motorräder oder kleine ungepanzerte, aber wendige Buggys.
Was machen Motorräder an der Front?
Mit Motorrädern versuchen die Russen, sehr schnell die ausgedehnten freien Flächen zu überwinden. Sie brechen in vermutetet ukrainische Stellungen ein, prüfen, ob das Gelände feindfrei ist und können dann Kräfte nachrücken lassen. Diese trotz schwerer Verluste immer wieder erfolgreiche Taktik stammt noch aus dem Zweiten Weltkrieg, damals durchgeführt von Motorradaufklärungsbataillonen. Wenn wir die operative Ebene betrachten, also die weitere Vogelperspektive auf die Front, dann sieht es so aus: Im Donbass rücken die Russen weiter vor und drängen die Ukrainer langsam zurück. Im Raum Charkiw schaffen es die Ukrainer hingegen nach wie vor, die Russen erfolgreich aufzuhalten und zum Teil auch, sie zurückzudrängen. Bei Lipzy zum Beispiel. Bei Wowtschansk hingegen sehen wir erbitterte Gefechte. Dort haben die Russen wegen der schweren Verluste sogar vor Kurzem eine Luftlandebrigade zurückgenommen. Da liegen sich die Ukrainer und die Russen quasi Stalingrad-ähnlich auf kurzer Distanz gegenüber, in Blickweite, und kämpfen verbittert und verbissen.
Wenn wir über die Front hinaus schauen: In den ersten vier Monaten dieses Jahres wurden 142 Transport- und Überwachungsflüge der Royal Air Force durch GPS-Störungen behindert, sagt eine britische Datenanalyse. 142 von 504 Flügen insgesamt, die über Osteuropa stattfanden. Das britische Verteidigungsministerium macht Russland verantwortlich, die dann also jeden vierten Flug der Briten über Osteuropa aktiv gestört hätten. Kann die NATO sich nicht wehren?
Das geht in der Tat schon seit Monaten so, vor allem über dem Baltikum, wo die Russen offensichtlich ganz gezielt das elektromagnetische Spektrum stören. Auch die zivile Luftfahrt meldet hier GPS-Ausfälle. Das ist also eine Fähigkeit hybrider Kriegsführung, die Russland hat und auch spielt, während die NATO nicht genau weiß, wie sie damit umgehen soll.
Der Ausfall von GPS bei einem Flugzeug klingt gefährlich.
Das ist es auch, vor allem für die zivile Luftfahrt, die im Wesentlichen von GPS-Koordinaten abhängt. Bislang gab es noch keinen schwerwiegenden Unfall, aber eine Reihe von Meldungen solcher Störfälle. Man nimmt an, dass viele dieser Angriffe von Kaliningrad ausgehen. Das ist die russische Enklave südlich des Baltikums, zwischen Polen und Litauen. Dort hat Russland einiges an Mitteln zur elektronischen Kampfführung stationiert. Das muss uns Sorgen bereiten. Gleiches gilt für russische Schiffe, die in der Nähe von Unterseekabeln unterwegs sind. Hier gibt es immer wieder den Verdacht, die Russen könnten Sabotageakte auf Datenkabel oder Rohstoffleitungen vorbereiten oder schon durchführen.
Noch mal zu den Flugzeugen: Wie kann eine Crew damit umgehen, wenn während des Flugs GPS ausfällt?
Der Autopilot meldet automatisch, dass er kein Signal mehr empfängt. Dann wird auf manuelle Steuerung umgeschaltet. Die kann natürlich auch optisch erfolgen, wenn der Flieger nicht mitten in der Nacht in einer Wolkendecke unterwegs ist. In dem Fall würde es tatsächlich gefährlich. Auf Funkkommunikation zur Unterstützung der Flugsteuerung kann man auch ausweichen. Eine zivile Passagiermaschine tatsächlich zum Absturz bringen, darauf legen es die Russen nicht an. Das kann ich mir derzeit nicht vorstellen. Man versucht einfach, den NATO-Aufklärungsmaschinen die Arbeit so schwer wie möglich zu machen.
Das klingt allerdings so, als sei es nur eine Entscheidung der Russen, keine Passagiermaschine per Sabotage vom Himmel zu holen. Die Fähigkeit dazu hätten sie?
Der Grund, warum die USA seit Beginn der russischen Vollinvasion in der Ukraine so bedächtig vorgehen, wie sie es tun, ist sicherlich folgender: Das Weiße Haus möchte den Kreml nicht so in die Enge treiben, dass er militärische Aktionen setzt, die sich nicht mehr beherrschen lassen. Das kann man ganz klar so sagen. Gerade in der digitalen Welt, in der wir heute leben, kann ein Gegner auf vielen Wegen zum Beispiel im Cyberraum aktiv werden. Darauf sind wir nicht vorbereitet und auf vieles andere auch nicht. Denken Sie an die Brandanschläge in Berlin.
Ein Gebäude des Rüstungskonzerns Diehl ging aufgrund eines technischen Defekts in Flammen auf.
Man geht dem Verdacht nach, ob Russland dahintersteckt. Trotzdem wird der Vorfall gar nicht besonders in deutschen Medien diskutiert. Das erstaunt mich. Gibt es Beweise für einen russischen Akt? Falls ja, was tun wir dagegen? Ein weiteres Beispiel: Die NATO hat kürzlich indirekt zugegeben, sie könnte im Ernstfall nur etwa fünf Prozent des Luftraums an der Ostflanke mit verfügbarer Flugabwehr schützen.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag bei ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.
(Foto: ntv.de)
Sie stellen Kampfführung im Krieg gern als Wettlauf dar: Eine Seite entwickelt etwas Neues, die andere versucht, schnell ein Gegenmittel zu finden. Steckt die NATO beim Thema Störsender noch mitten in diesem Prozess? Wir haben kein geeignetes Gegenmittel?
Aufgrund der Friedensdividende nach Ende des Kalten Krieges sind viele Fähigkeiten abgebaut worden. Betrachten wir die NATO, dann sind die Luftstreitkräfte noch am potentesten aufgestellt, weil man in Afghanistan und im Irak viele Luftstreitkräfte benötigt hat. Viele Verbände der Landstreitkräfte, darunter viele Fähigkeiten der Luftverteidigung und auch der Marine, haben westliche Staaten abgerüstet. Die Entwicklung in anderen Domänen, Cyberraum und Weltraum, haben vor allem wir in Europa verschlafen. Russland, aber auch China, der Iran und andere haben sich in der Zeit, in der wir abgerüstet haben, hochgerüstet. Nun stellt sich die Frage: Haben wir noch immer eine Parität der Kräfte? Können wir überhaupt noch abschrecken?
Wie lautet Ihre Antwort?
Nehmen wir zum Beispiel Deutschland. In gewissen Fähigkeitsbereichen in den unterschiedlichen Domänen hat die Bundeswehr, haben aber auch andere westliche Armeen kaum oder zumindest eingeschränkte Möglichkeiten. Die Bundeswehr hat neulich zwei Spionagesatelliten ins Weltall geschossen. Ersten Medienmeldungen aus den vergangenen 48 Stunden zufolge funktionieren sie nicht. Was denken sich wohl die Russen dabei? Zu Beginn des Jahres hat ein britisches U-Boot einen Atomwaffentest durchgeführt, mit einer Rakete, die nicht scharf war. Die Rakete hat das Wasser verlassen, sich im Kreis gedreht und ist wieder runtergefallen. Zum zweiten Mal in Folge. In unseren lebendigen Demokratien wird das alles offen diskutiert. Aber wir dürfen nicht naiv sein, denn Russland beobachtet uns natürlich.
Unterschiedliche Pannen lassen sich unterschiedlich erklären. Aber gibt es eine grundsätzliche Schwäche in der westlichen Verteidigung, die zu solchen Pannen beiträgt?
Folgendes Problem: In den vergangenen 20 Jahren hat der Westen aufgrund der Einsätze im Irak und in Afghanistan Waffen produziert, die sich gegen feindliche Störmaßnahmen im elektromagnetischen Feld nicht schützen mussten.
Weil den Taliban die Fähigkeiten fehlten, um in dieser Domäne anzugreifen?
Genau. Aber jetzt setzen wir uns mit einem Gegner auf Augenhöhe auseinander. Das ist etwas ganz anderes und plötzlich erkennen wir: Durch die Störattacken der Russen funktionieren unsere hochmodernen westlichen Waffen nicht mehr. Präzisionsgesteuerte Excalibur-Granaten zum Beispiel. Von 100 Granaten erreichen nur noch sechs ihr Ziel. Wenn unsere Präzisionswaffen bei den Ukrainern noch gut funktionieren würden, dann hätten wir jede Woche Bilder von zerstörten Militärbasen Russlands auf der Krim und in anderen Regionen. Haben wir aber nicht. Wir haben sie einmal im Monat.
Weil die Raketen und Marschflugkörper in ihrer Präzision von den Russen gestört werden?
So ist es. Die russische Seite scheint das elektromagnetische Feld sehr gut zu beherrschen. Sie war dort traditionell immer gut aufgestellt, hat ihre Fähigkeiten weiterentwickelt und schafft es, mit sehr billigen Mitteln sehr effiziente Systeme zu produzieren. Alte Gleitbomben werden mit einem billigen Aufsatz für ein paar 100 Euro zu einer weitreichenden Waffe mit enormer Zerstörungskraft. Würden Sie ein vergleichbar effektives System bei einem westlichen Rüstungskonzern einkaufen, hätten Sie einen riesigen Produktionsaufwand, bekämen eine Waffe mit klingenden Namen wie "Joint Direct Attack Munition" oder so ähnlich und würden Millionen Euro dafür bezahlen. Aber die Russen schaffen mit weniger Geld wesentlich mehr Effekt, und die Rüstungsunternehmen kommen nicht nach, etwas dagegenzuhalten.
Lassen sich westliche Waffen wie Storm Shadow oder HIMARS nicht aufrüsten, um gegen die Störsender immun zu werden?
Das wird jetzt versucht, funktioniert aber nicht so schnell. Da müssen die Konzerne ihre Techniker zusammenholen und erst mal herausfinden, wie die Russen vorgehen: Welche Frequenzbänder nutzen sie? Welche Systeme haben sie? Was lässt sich dagegen entwickeln? In Friedenszeiten dauert ein solcher Prozess Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. Dieser Tage, beschleunigt, immer noch Monate. Einzelne Anbieter zeigen jetzt schon auf Rüstungsmessen Produkte, die russische Systeme überlisten können. Die sind aber nicht erprobt. In der Ukraine werden sie dennoch eingesetzt, bloß sind das dann ein, zwei Systeme auf einer Frontlänge von 1200 Kilometern. Es fehlt die Quantität. Und von einer Verfügbarkeit in den eigenen Streitkräften ist da noch gar keine Rede.
Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de