Buch kritisiert auch CDU-Politik Röttgen: Putin wurde verniedlicht
23.05.2022, 18:50 Uhr
"Wunsch statt Wirklichkeit" - so fasst Norbert Röttgen die Fehler in der deutschen Russlandpolitik der letzten Jahre zusammen.
(Foto: picture alliance / Geisler-Fotopress)
Auf 190 Seiten analysiert CDU-Außenexperte Röttgen die dramatische Lage im Konflikt mit Russland. Dabei muss er auch Fehler der eigenen Partei benennen. Nun soll es schnell und pragmatisch gehen - mit Ölembargo und assoziierter EU-Mitgliedschaft für die Ukraine.
Das Ölembargo muss viel schneller kommen. So lautet eine der Schlussfolgerungen, die Norbert Röttgen, CDU-Außenpolitikexperte und gescheiterter Kandidat für den Parteivorsitz, aus einer Analyse der deutschen Russland-Politik der vergangenen Jahre zieht. Der Krieg werde sich an der Ausdauerfähigkeit der beiden Gegner entscheiden und "auf russischer Seite ist die Durchhaltefähigkeit vor allen Dingen eine Frage der wirtschaftlichen Durchhaltefähigkeit", führt Röttgen bei der Vorstellung seines Buches "Nie wieder hilflos!" in Berlin aus.
Zwar sei der Export Russlands niedriger als vor Beginn des Krieges, "aber Krieg sorgt für Spekulationen, führt zu höchsten Preisen", so Röttgen. Darum seien die ausländischen Devisen, die täglich in Wladimir Putins Kassen fließen, extrem hoch. "Das stabilisiert von der Währung angefangen bis hin zur Wirtschaft das System Putin." Das Ölembargo sei gegen Ende des Jahres daher zu spät, es müsse "viel schneller kommen".
Jeder konnte sehen, dass die Gazprom-Speicher leer waren
Auf 190 Buchseiten "Manifest in Zeiten des Krieges", innerhalb weniger Wochen zu Papier und in den Druck gebracht, plädiert Röttgen für einen Politikwechsel - für mehr Resilienz, also Widerstandskraft gegen Bedrohungen. Er fordert einen neuen Umgang mit den Herausforderungen dieser Zeit und benennt Russland, China, Energiesicherheit, Klimawandel.
Röttgen will Prioritäten verschieben. Da allerdings die alten Prioritäten in den letzten 16 Jahren maßgeblich von seiner eigenen Partei gesetzt wurden, kann er nicht umhin, in seiner Analyse Fehler der Unionspolitik immer wieder zu benennen. Als "Wunsch statt Wirklichkeit" fasst er einige zusammen. Denn, so Röttgen, es war für jedermann sichtbar, dass die Gazprom-Speicher leer waren. "Denen, die entschieden haben", sei noch klarer als anderen gewesen, dass zusätzlich von Russland nicht nur das Öl gekauft wurde, sondern auch die Verarbeitung, die Raffinerie. Die Abhängigkeit von Putin war offensichtlich, findet Röttgen.
Entsprechend sieht er in der Rückschau den Fehler, dass "man" immer so getan habe, als sei Putin "eigentlich einer von uns", und "wir würden doch niemals Krieg anfangen". Der russische Machthaber sei verniedlicht worden. Deutschland habe sich methodisch einfach nicht auf den anderen eingelassen und so getan, als wären alle immer nur mit einer westlichen Perspektive ausgestattet. "Wir respektieren nicht, dass es auch eine ganz andere Sicht auf die Welt gibt."
Angesichts dieser anderen Sicht auf die Welt, die Röttgen nicht nur Russland, sondern auch China zuschreibt, fordert der Unionspolitiker nun eine neue Außenpolitik - schnelleres Handeln mit Bereitschaft zum Risiko. Das Ölembargo der EU, das Ungarns Staatschef Viktor Orbán offen ablehnt, müsse notfalls ohne Ungarn kommen. Dazu müssten sich die europäischen Staaten aus Sicht des Außenpolitikers von der Einstimmigkeit lösen, die in der EU für solche Beschlüsse gefordert sind. "Wir verabschieden uns von 28, weil die sowieso nicht zusammen kommen". Statt dessen sollten die EU-Staaten eine Gruppe bilden, die für das Embargo bereit sei. "Dann setzen wir Ressourcen ein, die notwendig sind, wenn wir unsere Interessen wirklich verfolgen wollen."
Auch das Gerangel um einen möglichen EU-Beitritt der Ukraine ist für Röttgen nicht zielgerichtet und pragmatisch genug. "Wir brauchen schnelle Lösungen, die machbar sind" - das ist aus seiner Sicht eine sogenannte "Assoziierte Mitgliedschaft" im europäischen Bündnis, die etwa eine Teilnahme an EU-Gipfeln miteinschließen könnte. Einen solchen Vorschlag hatte auch schon Italiens Premier Mario Draghi gemacht.
"Im Zentrum sollte die wirtschaftliche Assoziation stehen", schreibt Röttgen im Buch, "die nach und nach auf die Integration in den Binnenmarkt hinauslaufen müsste". Die schwierige Frage, ob für ein solches assoziiertes Mitglied auch die EU-Beistandsklausel gelten würde, die die EU-Partner im Angriffsfall zum militärischen Beistand verpflichtet, spart Röttgen aus.
Noch einen weiteren außenpolitischen Fehler benennt Röttgen deutlich, den er dem ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush anlastet. Der hatte in seiner Amtszeit maßgeblich dafür gesorgt, dass die Ukraine von der NATO nicht den Status eines Beitrittskandidaten bekommen hatte, sondern die Zusage, Mitglied zu werden. Daraus wurde bekanntlich nichts, "aber gleichzeitig wurde Putin natürlich signalisiert: Die sind auf dem Weg dahin". Aus Sicht des CDU-Mannes war es "das Schlechteste, was man im Ergebnis tun konnte".
In seinem Buch wie auch bei der Präsentation liefert Röttgen keine Detailanalyse der Außenpolitik der vergangenen Jahre. Was das Manifest jedoch leistet: die derzeitige Situation in ihren wesentlichen Aspekten zusammenzufassen, Schlüsse aus den aktuellen Entwicklungen zu ziehen und einige davon zu konkreten Forderungen zu erheben. Für die notwendige Debatte darüber, auf welche Weise Deutschland in naher Zukunft seine eigenen Interessen verfolgen und als viertgrößte Wirtschaftsmacht auch die Weltpolitik aktiver mitgestalten will, kann Röttgens "Manifest" einen Anstoß liefern.
Quelle: ntv.de