Reisners Blick auf die Front "Russland drängt Ukraine immer mehr in Defensive"
11.12.2023, 20:07 Uhr Artikel anhören
In der Ukraine macht sich Verzweiflung breit: Russland gelingen täglich neue Vorstöße und zwingt die ukrainischen Truppen dadurch an vielen Stellen entlang der Frontlinie zum Rückzug. "Wenn der Westen sich nicht bewegt, wird die Ukraine in die Defensive gedrängt", sagt Oberst Markus Reisner im Interview. Es gebe aber Waffen, die der Ukraine helfen könnten.
ntv.de: Russland geht entlang der Frontlinie gerade verstärkt in die Offensive und nimmt auch immer wieder mehr ukrainisches Land ein. Ist die gescheiterte ukrainische Offensive jetzt vollends in die Defensive übergegangen?

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.
(Foto: privat)
Markus Reisner: Das Nachlassen der westlichen Hilfe wird von Russland offensiv ausgenützt. Die Russen versuchen, durch das Zusammenziehen neuer Truppenteile an wichtigen Brennpunkten der Front entsprechende Entscheidungen herbeizuführen. Das bedeutet nicht nur die Einnahme von Ortschaften, sondern auch das Schließen von lokalen Kesseln oder versuchte Durchbrüche in Richtung Westen. Das kann man vor allem im Osten der Ukraine sehr gut erkennen, im Raum zwischen Kupjansk und Swatowe und bei Bachmut. Was die Ukraine an Geländegewinnen gemacht hatte, ist dort wieder von den Russen zurückerobert worden, vor allem durch die Luftlandetruppen, die dort im Einsatz sind. Aber auch in Awdijiwka, wo immer noch heftige Kämpfe toben, und südlich davon bei Cherson. Der Brückenkopf bei Krynky auf der südlichen Seite des Dnipro stehen die Ukrainer unter starkem Druck der Russen. Russland versucht jetzt im Winter, noch vor dem russischen Neujahr, mehrere Vorstöße, selbst wenn es nur kleine sind, damit man etwas herzeigen kann.
Verliert die Ukraine also gerade wieder Land, das sie in den vergangenen Monaten mühsam befreit hatten?
Ja, durchaus. Vor allem an den drei Stellen, wo die Ukraine versucht hatte, in die Offensive zu gehen: im Raum Bachmut, nördlich von Berdjansk und Mariupol und nördlich von Melitopol. In allen drei Bereichen ist es zu Geländegewinnen der Russen gekommen. Bei Bachmut sind die Russen nordwestlich vorgestoßen und sind dabei, die in der Vergangenheit heftig umkämpfte zentrale Versorgungsstraße in die Stadt einzunehmen. Im Zentralraum sind die Russen mehrere hundert Meter bei Uroschaine, nördlich von Berdjansk und Mariupol, vorgestoßen. Nördlich von Melitopol und Tokmak konnten die Russen ebenfalls wieder Land zurückerobern. Das ist der Raum südlich von Robotyne, wo die ukrainische Seite es vor wenigen Monaten geschafft hat, den Fuß in die Verteidigungslinien zu bekommen. Das konnte man auch an einem Video erkennen, das in russischen Netzwerken geteilt wurde, wo es den Russen offensichtlich nicht nur gelungen ist, einen Leopard Kampfpanzer zu zerstören, sondern das Fahrzeug auch in Besitz zu nehmen. Auf dem Ausschnitt ist zu sehen, dass sich das Fahrzeug südlich von Robotyne befindet.
Was bedeutet das?
Das Video ist deswegen interessant, weil es oft heißt, dass die Panzer trotz der Angriffe von russischen Kamikaze-Drohnen oder First-Person-View-Drohnen nur beschädigt werden und zu bergen wären. Aber in diesem Video kann man sehr gut erkennen, dass das Fahrzeug innen fast vollständig ausgebrannt ist. Das heißt, es ist nicht mehr instandsetzbar. Russland hat mit seinen Gefechtstechniken und Taktiken, mit denen sie gegen diese schweren Fahrzeuge aus dem Westen vorgehen, Erfolg.
Welche Taktiken sind das?
Es ist eine Kombination aus mehreren Dingen. Einerseits der Einsatz von Minen, der diese Fahrzeuge nicht nur beschädigt, sondern auch zerstört. Zudem der Einsatz von Kampfhubschraubern aus sicherer Entfernung. Dazu sind in den letzten Monaten zwei weitere Fähigkeiten gekommen: zum einen der Einsatz von mobilen Panzerlenkabwehrwaffen-Trupps, die diese Panzer treffen und zerstören, auch wenn die Besatzungen oft überleben, weil westliche Fahrzeuge anders gebaut sind als russische. Zweiteres ist der Einsatz der First-Person-Drohnen, der das gut zeigt. Den Open-Source-Analysten von Oryx zufolge sind bereits 27 Kampfpanzer vom Typ Leopard 2 A4 und A6 beschädigt oder zerstört worden und knapp 70 Schützenpanzer vom Typ Bradley und CV 90. Auch deutsche Marder wurden zerstört. Insgesamt sind das 100 Kampffahrzeuge aus westlicher Produktion.
Wie kann die Ukraine dem entgegensteuern?
Die Ukraine hat multiple Herausforderungen. Dabei kommt es vor allem auf drei Bereiche an: Auf strategischer Ebene braucht sie vor dem Winter vor allem Fliegerabwehrsysteme, um sich gegen die erwartbaren russischen Angriffe mit iranischen Drohnen und Marschflugkörpern zu wehren. In den letzten 14 Tagen gab es zwei Angriffe mit einer signifikanten Beteiligung von Marschflugkörpern. Das heißt, dass die Russen ihre zweite strategische Luftkampagne begonnen haben. Möglich ist auch, dass mittlerweile neue Typen von Drohnen eingesetzt werden, nicht die alte Shahed 136/138, sondern die neue 238. Die haben einen anderen Antrieb, der sie viel schneller macht. Das macht es für die Ukraine schwieriger, diese Systeme abzuwehren.
Auf der operativen Ebene hat die Ukraine große Herausforderungen, ihre Reserven dorthin zu bringen, wo sie benötigt werden. Das Ziel der Russen ist, die Ukraine wie letztes Jahr im Winter zu zwingen, ihre regional verfügbaren Reserven entlang der gesamten Frontlinie einzusetzen. Sie wollen außerdem verhindern, dass weitere Kräfte bereitgestellt werden, die im Frühjahr einsetzbar sind. Die Ukraine muss deshalb versuchen, diese Kräfte über den Winter zusammenzuhalten, um nächstes Jahr im Frühjahr nicht ohne dazustehen.
Und der dritte Bereich?
Auf taktischer Ebene ist die große Herausforderung nach wie vor der Einsatz der First-Person-Drohnen. Am Brückenkopf Krynky können die Russen mittlerweile bei Tag und bei Nacht mit wärmebildfähigen Drohnen die Ukraine angreifen. Die Ukrainer wehren sich ebenfalls mit First-Person-View-Drohnen, aber das Problem ist, dass Russland seine Truppen quantitativ besser versorgen kann als die Ukraine. Es produziert einfach mehr und schneller.
Wir nähern uns dem Ende des Jahres. Mehrere Länder haben der Ukraine die Lieferung von F-16-Jets für den Anfang des nächsten Jahres versprochen. Könnten die Kampfjets die Lage der Ukraine schlagartig verbessern?
Schlagartig nicht. Gemeinsam mit den Fliegerabwehrsystemen werden die Jets für den Schutz der Tiefe des Landes eingesetzt. Erst dann ist die Ukraine in der Lage, die militärische Produktion anzuwerfen, die sie benötigt, um die Truppen an der Front zu versorgen. Das Zweite ist, eine Art Lufthoheit im Osten für möglicherweise einer weiteren Offensive zu erkämpfen, wobei es dafür momentan keine Indikatoren gibt. Es wird interessant, wie die Ukraine es schafft, diese Flugzeuge so zu implementieren und auf mehrere Standorte aufzuteilen, dass sie nicht sofort den Russen zum Opfer fallen.
Gibt es etwas, was der Westen liefern könnte, um der Ukraine kurzfristig aus ihrer derzeitigen Lage zu helfen?
Ja. Das sind vor allem Luft-Boden-Systeme oder Boden-Boden-Systeme von mittlerer bis hoher Reichweite. Dazu gehören beispielsweise die Boden-Boden-Rakete ATACMS, die von HIMARS-Systemen abgefeuert werden können. Oder auch die bereits angekündigte Lieferung der Ground-Launched Small Diameter Bombs (GLSDB), bei der es allerdings eine Verzögerung bis ins nächste Jahr gibt.
Dafür wären doch auch die deutschen Taurus-Raketen geeignet, oder?
Genau, das ist auch der Grund, warum diese Debatte in den letzten Wochen so intensiv geführt wurde. Mit der mittleren bis hohen Reichweite könnte das Taurus Luft-Boden-System Logistik- und Kommandostrukturen der Russen angreifen. Um nachhaltige Effekte zu erzielen, ist es immer besser, in der Tiefe anzugreifen und die Logistikknotenpunkte oder Kommandostrukturen zu treffen. Das hat eine viel größere Wirkung als das unmittelbare Bekämpfen von Truppen an der Front selbst.
Was passiert, wenn der Westen nicht ausreichend Waffen liefert?
Wenn der Westen sich nicht bewegt, dann gilt, was auch ukrainische Offizielle sagen: Die Ukraine wird immer mehr in die Defensive gedrängt. Präsident Selenskyj sagt, dass sie sich zwar nicht zurückziehen, aber in die Verteidigung übergehen müssen. Es wird möglicherweise Entscheidungen zum Wohle der Soldaten geben. Das kann bedeuten, dass die Ukraine gewisse Räume aufgeben und sich zurückziehen muss, wie zum Beispiel in Awdijiwka.
Ist es militärisch sinnvoll, die Stadt weiter zu halten, oder sind die Beweggründe politischer Natur wie bei Bachmut vor einigen Monaten?
Die Situation ist dieselbe wie damals in Bachmut. Jede Seite hat versucht, die Deutungshoheit für sich in Anspruch zu nehmen. Am Ende haben beide Seiten hohe Verluste erlitten und die Russen haben Bachmut am 20. Mai in Besitz genommen. In Awdijiwka stellt sich nun die gleiche Frage: Wäre es nicht besser, die Stadt zu verlassen? Aber jedes Abziehen von Truppen bedeutet sofort im Informationsraum eine Niederlage, der von den Russen als Kapitulation interpretiert wird. Trotzdem kann es sein, dass es zu einer sogenannten Frontbegradigung kommt. Das heißt, man geht auf stärkere Verteidigungslinien zurück, um die Soldaten zu schonen und sie nicht in einem Kessel zu verlieren.
Wäre das die richtige Entscheidung?
Die Ukraine ist zunehmend verzweifelt und ernüchtert. Es macht sich zudem eine zunehmende Resignation auf der westlichen Seite des globalen Nordens breit. Die Entscheidung, jetzt in die Defensive zu gehen, ist aus ukrainischer Sicht richtig. Die nächsten Monate über den Winter werden daher vorerst vom ukrainischen Übergang von der Offensive in die Defensive geprägt sein. Russland nutzt hingegen die Gunst der Stunde und sieht nun neuerlich seine Chance gekommen.
Mit Markus Reisner sprach Vivian Micks
Quelle: ntv.de