Keine Illusionen über Kriegsende Die Stimmung in der Ukraine ist anders als vor einem Jahr


Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko bei der Erleuchtung des Weihnachtsbaums auf dem Sophienplatz am 6. Dezember - dem Nikolaustag.
(Foto: IMAGO/Ukrinform)
Ratten und Kälte in den Schützengräben, Ängste und enttäuschte Hoffnungen im Hinterland: In der Ukraine ist der Enthusiasmus aus der Zeit nach den Siegen von Charkiw und Cherson verflogen. "Wir sind dort, wo wir sind, und müssen halt weitermachen", sagt ein Kiewer.
Ein für die Ukraine schweres Jahr geht zu Ende. 2023 fing mit blutigen Kämpfen um Bachmut in der Region Donezk an. Zugleich war die Situation im Hinterland schwierig, weil die ständigen russischen Angriffe auf die Energieinfrastruktur im Winter immer wieder zu massiven Stromausfällen führten. Im Sommer folgte dann die erwartete Offensive im Süden, die nicht so verlief wie erhofft: Während im Westen nach den Erfolgen im Herbst 2022 lange über die Aufstockung der militärischen Unterstützung diskutiert worden war, hatte Russland die Zeit genutzt, sich einzugraben. Die ausgebauten Stellungen ohne Luftüberlegenheit und ausreichend Gerät zur Minenräumung zu überwinden, erwies sich als schwierig. Die militärische Führung der Ukraine musste die Taktik daher umstellen: Statt mit großen Technikkolonnen anzugreifen, setzt die ukrainische Armee seither auf kleinere Sturmgruppen.
Bisher sind die Ergebnisse eher durchwachsen. Ob das Wort "gescheitert" in seiner Brutalität angesichts der 17 Kilometer angebracht ist, die die ukrainische Armee Richtung Süden vorangekommen ist, darf zwar diskutiert werden. Aber zum einen hat sie dabei immerhin eine Art Aufmarschgebiet für mögliche künftige Aktionen geschaffen. Und zum anderen hätten dies unter den gegebenen Umständen, mit den vorhandenen Mitteln wohl nur wenige Armeen erreicht. Außerdem darf nicht aus dem Blick geraten, dass es ohnehin nicht selbstverständlich ist, die mehr als 850 Kilometer lange Front, von kleineren russischen Erfolgen abgesehen, zu halten - besonders jetzt, wenn zum Wetter noch Tausende von Mäusen und Ratten hinzukommen, die den Soldaten in den Schützengräben zusätzliche Probleme schaffen.
"Tief im Herzen glauben wir alle an Wunder"
Obwohl es bislang noch keine systematischen Stromausfälle gibt, ist die Stimmung auch im Hinterland eine andere als nach Siegen in Charkiw und Cherson im vergangenen Jahr. "Ich hatte keine Illusionen über ein Kriegsende in diesem Jahr, dafür bin ich realistisch genug", sagt etwa Julia, eine rund 50-jährige Kiewerin, deren Sohn gerade in der Armee ist. "Worauf ich allerdings gehofft hatte, war, bis Jahresende eine gewisse Orientierung für die Zukunft zu haben. Zumindest ein bisschen Planungssicherheit." Seit fast zwei Jahren höchstens von Tag zu Tag planen zu können, sei extrem anstrengend. Die Schuld daran trage allerdings ausschließlich Russland, das den Krieg jederzeit enden könnte, betont Julia. "Tief im Herzen glauben wir alle an Wunder. Die hat es in diesem Krieg auch gegeben", sagt auch Informatikstudent Mychajlo. "Überhöhte Erwartungen hätte man ohnehin nicht verhindern können. Aber wir sind dort, wo wir sind, und müssen halt weitermachen. Einfachere und schönere Alternativen wären nett, sind aber nicht besonders realistisch."
Die Ukrainer haben eine ganze Reihe von Sorgen. Da ist die Angst, dass es in diesem Winter mit der Stromversorgung ähnlich schlimm werden könnte wie vor einem Jahr. Auch die seit dem 24. Februar 2022 andauernde Mobilmachung ist ein sensibles Thema, mit dem vor allem Männer unterschiedlich umgehen. Und natürlich registrieren die Menschen, dass die westliche Unterstützung gerade jetzt, in diesem Schicksalsmoment bröckelt - während Russland das Militärbudget für das nächste Jahr im Vergleich zu 2023 um 70 Prozent aufstockt und in den Haushaltsplanungen drei weitere Kriegsjahre mit einrechnet. Auch die Krise im US-Kongress ist ein tägliches Gesprächsthema, und man nimmt zur Kenntnis, dass die Ukraine im November die geringste Hilfe bisher in diesem Krieg bekam.
"Es war ein Jahr der verrückten emotionalen Schwankungen", konstatiert der bekannte Politikwissenschaftler Wolodymyr Fessenko, der das Zentrum für angewandte politische Forschung, Penta, in Kiew leitet. "Ab Herbst zeichnete sich ab, dass der Krieg keinesfalls schnell enden wird und das Hauptproblem der Mangel der militärischen Ressourcen ist, vor allem bei der Munition." Auch emotionale Ermüdung spiele eine Rolle. Die Enttäuschung führe zu gegenseitigen Vorwürfen in der ukrainischen Politik. "Nun ist es Zeit für uns alle, uns zu beruhigen", so Fessenko. Das gelte vor allem für öffentliche Figuren wie Präsident Wolodymyr Selenskyj, den Oberkommandierenden der ukrainischen Armee, General Walerij Saluschnyj, sowie für Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko und Ex-Präsident Petro Poroschenko - die beide in Opposition zu Selenskyj stehen.
Vertrauen in Selenskyj weiter hoch - aber nicht in die Regierung
Tatsächlich haben die innenpolitischen Spannungen zuletzt deutlich zugenommen. Die Schwierigkeiten in der Beziehung zwischen Selenskyj und Saluschnyj liegen zwar mehr an Widersprüchen zwischen der politischen und der militärischen Ausgangslage, obwohl eine gewisse Eifersucht zwischen den beiden beliebtesten Personen des Landes beinahe natürlich wäre. Die Worte des Kiewer Bürgermeisters Klitschko, der im "Spiegel" vor autoritären Tendenzen in der Ukraine warnte, wurden im politischen Kiew jedoch selbst von der Opposition scharf kritisiert und seine Russland-Vergleiche als "absurd" und "kaum weiterbringend" abgestempelt.
Der ewige Konflikt zwischen Selenskyj und dem nationalkonservativen Lager von Ex-Präsident Poroschenko, der vor dem russischen Einmarsch die ukrainische Politik dominiert hatte, ist aber aktuell sichtbarer denn je. Nachdem Poroschenko-nahe Abgeordneten das Thema der Spannungen zwischen Selenskyj und Saluschnyj demonstrativ hochgespielt und auch einige nachweislich falsche Meldungen dazu verbreitet hatten, wurde Poroschenko eine eigentlich schon genehmigte Ausreise zu politischen Gesprächen in die EU und in die USA verweigert. Offiziell, weil er unter anderem den russlandfreundlichen ungarischen Premier Viktor Orbán treffen wollte. Inoffiziell ist dieser Schritt aber ganz klar als Antwort des Präsidentenbüros auf die Aktionen seiner Umgebung zu verstehen.
Laut der jüngsten Umfrage des Meinungsinstituts Rating Group genießt Selenskyj weiterhin eine breite Unterstützung in der Ukraine: 71 Prozent vertrauen dem Präsidenten. Das sinkende Vertrauen in die Regierung von Ministerpräsident Denys Schmyhal, aktuell unter 40 Prozent, und der katastrophale Vertrauenswert für das Parlament von knapp über 20 Prozent zeigen aber eine gewisse Unzufriedenheit mit dem Stand der Dinge. "Wieder ist die maximale Konzentration von Kräften, Ressourcen sowie politische Konsolidierung erforderlich", urteilt Politologe Fessenko. "Wir haben keine andere Wahl, als den Kampf gegen die russische Horde fortzusetzen. Wir müssen die aktuellen Probleme ertragen und abwarten. Der Winter wird in ein paar Monaten vorbei sein - und Frühling ist für die Ukrainer traditionell mit neuen Hoffnungen verbunden."
Quelle: ntv.de